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Mythos Ueberfremdung

Mythos Ueberfremdung

Titel: Mythos Ueberfremdung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doug Sounders
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vertreiben versuchten, im November folgte dann, nach einem weiteren Fußballspiel, wieder eine gewalttätige Straßenschlacht zwischen anatolischen und kurdischen Jugendlichen türkischer Herkunft. Die meisten Konflikte und Gewalttätigkeiten spielten sich zwischen unterschiedlichen muslimischen Gemeinden ab, und die Verbrechensopfer waren fast ausschließlich die muslimischen Einwanderer selbst, aber diese Ereignisse verstärkten bei vielen Europäern den Eindruck, dass der Islam bei ihnen angekommen war und Chaos und Unordnung mitgebracht hatte. Die Europäer hatten nach vielen Generationen vergessen, dass katholische und jüdische Einwandererviertel zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf ähnliche Weise wahrgenommen worden waren und es dort in einigen Fällen genauso gewalttätig zugegangen war.
    Eine solche Entwicklung ist in armen Einwanderervierteln oft zu beobachten: Sie werden zu Opfern ihres anfänglichen Erfolgs. Ein Mangel an Ausbildungsmöglichkeiten und die räumliche Isolation in »ihren eigenen« Vierteln lässt die zweite Generation in einer Sackgasse zurück, ohne den Weg zum Erfolg, der ihren Eltern noch offenstand.
    Doch so etwas ist nicht das unausweichliche Schicksal eines jeden muslimischen Einwandererviertels. Manche, zum Beispiel Belleville in Paris, wurden zu Vorbildern für aufstiegsorientierte soziale Mobilität und kulturelle Begegnung. Andere, etwa die Stadtteile Whitechapel und Spitalfields im Londoner East End, durchliefen eine Phase mit gewalttätigen Straßenbanden, religiösem Extremismus und hoher Kriminalität und fanden dann zu einer wirtschaftlichen und kulturellen Blüte. Die Bangladescher- und Pakistaner-Enklaven im Osten Londons sahen in den 1980er-Jahren fast genauso aus wie Jamals raues Antwerpener Stadtviertel heute. Aber sorgfältig konzipierte Regierungsprogramme (vor allem im Bildungsbereich), der leichte Zugang zu den Mitteln, die man für kleine Unternehmen braucht, ohne dass die Bürokratie sich groß einmischte, und Wege zur vollständigen rechtlichen Einbürgerung für die Bewohner der Viertel in der Umgebung von Brick Lane sorgten dafür, dass diese Gegenden zu kulturellen und wirtschaftlichen Anziehungspunkten wurden – und zum Geburtsort einer neuen Mittelschicht unter Einwanderern, die in der Wirtschaft, Politik und in der akademischen Welt eine bedeutende Rolle spielen. Der »2060«-Bezirk von Antwerpen oder die Berliner Problembezirke Wedding und Kreuzberg mit ihrem hohen Anteil türkischer Einwanderer könnten innerhalb eines Jahrzehnts genauso aussehen.
    Warum begünstigen manche Einwandererviertel die erfolgreiche Integration, während andere die zweite Generation in die Marginalisierung abrutschen lassen? 1 Islamfeindliche Autoren und Aktivisten machen den Islam selbst für eine ungünstige Entwicklung verantwortlich, und viele Regierungen neigen dazu, diese Frage zu ignorieren, während die Einwanderer selbst sich der Kräfte, die ihre anfänglichen Ambitionen zunichtemachen, sehr wohl bewusst sind.
    »Heute ist es schlechter, im Vergleich zu meiner eigenen Kindheit – es fehlt an Schulen, es fehlt an Lehrern, es fehlt an Bildung, es fehlt an Wohnraum. […] Diese Generation verliert ihre Zuversicht. Sie meint, der Staat und das französische Volk hätten sich von ihr abgewandt. Also hat sie nichts mehr zu verlieren«, sagt Samia Ghali, eine Tochter algerischer Einwanderer, die als französische Senatorin den Wahlbezirk Nord-Marseille vertritt, in dem eine der größten Gruppen nordafrikanischer Muslime in ganz Europa zu Hause ist.
    Ghali hat beobachtet, wie die Söhne ihrer algerischen und marokkanischen Nachbarn aus dem Erwerbsleben herausfielen und im organisierten Verbrechen, im Drogenhandel oder, in einigen Fällen, in fundamentalistisch-islamischen Kreisen landeten. Ghalis Zorn richtet sich gegen die französischen Konservativen, die die Einwanderung und den Islam für die Sorgen ihres Landes verantwortlich machen, aber auch gegen die eigene Partei, die Sozialisten, die dazu neigt, der Wirtschaft die Schuld zu geben und Law-and-Order-Lösungen zu verwerfen. »Wir brauchen nicht nur Schulen und Arbeitsplätze, sondern auch konsequente Polizeiarbeit und eine Wehrpflicht«, sagt sie. »Bedenken Sie, wir Algerier sind die Verbrechensopfer. Der Staat muss in unserem Wohnviertel Präsenz zeigen. Wenn wir Polizeistreifen und Schulen haben, können sich unsere Kinder wieder als Teil Frankreichs fühlen.«
    Einwandererviertel mit günstigen Mieten dienen als

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