Mythos Übergewicht: Warum dicke Menschen länger leben. Was das Gewicht mit Stress zu tun hat - überraschende Erkenntnisse der Hirnforschung (German Edition)
zu verantworten hat. Welche Rolle Ernährungsindustrie und Pharmakonzerne spielen, welche das Gesundheitswesen und inwiefern wir alle Verantwortung tragen. Denn, auch das zeigen neue wissenschaftliche Studien, Gewichtszunahme ist vor allem ein gesellschaftliches Problem. Menschen werden dick, weil sie arm sind oder sich vor Armut fürchten, weil sie Angst um ihre Jobs haben oder weil ihnen das Familienleben, die Kindererziehung mit endlosen Kämpfen über den Kopf wächst. Weil sie einsam und isoliert leben oder weil sie sich von ihren Kollegen gemobbt fühlen; weil Partnerschaften zerbrechen, Mütter mit Kindern allein zurückbleiben und weil niemand da ist, der diese Mütter auffängt, die nicht wissen, wie man den täglichen Konflikt zwischen elterlicher Fürsorge und der Verpflichtung, Geld zu verdienen, lösen soll. Weil im Beruf immer mehr verlangt wird und man sich überlastet fühlt, aber Angst hat, nein zu sagen, aus Sorge, den Job zu verlieren, oder weil in der Familie eine schwere Erkrankung auftritt – wie Alzheimer, Depression oder eine Alkoholabhängigkeit. Ein chronisch krankes Familienmitglied belastet die ganze Familie stark – seelisch und körperlich.
All diese Faktoren und Lebensumstände, so verschieden sie auch sein mögen, haben etwas gemeinsam: Sie erzeugen psychosozialen Stress – und das ist neben traumatischen Erlebnissen die schwerste Form von Belastung für unser Stresssystem. Psychosozial stressig wird es immer dann, wenn uns der Umgang mit anderen Menschen in ein emotionales Krisengebiet führt. Das können ungelöste Konflikte in Partnerschaften sein, zwischen Kindern und Eltern; oder die Erfahrung, plötzlich vom Partner verlassen zu werden, Probleme am Arbeitsplatz zu haben, mit Kollegen, mit Vorgesetzten. Diese psychosozialen Stressoren können jedem von uns begegnen, jeden Tag. Und oft wissen wir nicht, wie wir damit umgehen sollen. Was wir tun können, um diesen bedrängenden und belastenden Kräften entgegenzuwirken. Ein wesentlicher, aber bisher kaum beachteter Aspekt in diesem Zusammenhang ist der Einfluss psychosozialer Stressoren auf die Energieversorgung unseres Gehirns, auf unser Essverhalten und unser Gewicht.
Dass Stress Einfluss auf das Körpergewicht ausübt, ist grundsätzlich keine neue Erkenntnis. Neu ist aber das Wissen, dass sich unsere menschliche Erscheinungsform wandeln kann, sobald wir in eine stressvoll-unsichere und gefährliche Umgebung geraten, und dass es sich dabei um ein grundlegendes biologisches Prinzip handelt, welches sich nicht nur beim Menschen, sondern im gesamten Tierreich – vom Wasserfloh bis zum Elefanten – wiederfindet. Und neu ist damit, dass es sich bei Stress nicht um eine, sondern um d i e Ursache für Gewichtszunahme handelt. Bis auf ganz wenige klinische Ausnahmen gilt: Jeder Mensch, der dick wird, ist stressbelastet – sei es psychosozial oder durch eine Erkrankung, die den Körper belastet. Und frage ich einen dicken Menschen nach seiner Last, die er zu tragen hat, so wissen die meisten diese zu benennen oder ahnen zumindest, was sie drückt. Physiologisch betrachtet bedeutet dies: Das Stresssystem dieses Menschen ist von normal aktiv in den Zustand hochaktiv geraten, entweder kurzandauernd-traumatisch oder langandauernd-zermürbend – für Monate oder sogar Jahre. Die Gewichtszunahme ist nichts anderes als eine Folge dieser Überbeanspruchung des Stresssystems.
Es bedarf aber keines großen Lebensdramas, um das Stresssystem eines Menschen so zu überlasten, dass daraus ein hohes Körpergewicht entsteht. Vermeintlich kleinere (oder verborgene) Konfliktherde können eine ebenso verheerende Wirkung haben wie große, dramatische Stressereignisse. Tatsache ist: Psychosozialer Stress birgt das Risiko, dick zu machen – das konnte in den Studien der Selfish-Brain-Forschung, um die es hier in diesem Buch gehen wird, nachgewiesen werden. Anders gesagt: Dick wird niemand von alleine. Gewichtszunahme hat damit zu tun, dass sich unser soziales Ich verstrickt hat. Wie bei einem Knäuel verknüpfen, verheddern und verwirren sich manchmal unsere Lebensfäden mit denen der Menschen, die uns nahestehen. Eine Reaktionsmöglichkeit besteht darin, diesen Zustand zu verdrängen, eine andere, sich damit abzufinden, dass es ist, wie es ist. Doch weder Verdrängung noch stoisches Aushalten rühren am Kern des Problems, und wir können sicher sein, dass unser Stresssystem uns immer wieder daran erinnern wird. Ungelöste Konflikte lösen sich
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