Mythos Übergewicht: Warum dicke Menschen länger leben. Was das Gewicht mit Stress zu tun hat - überraschende Erkenntnisse der Hirnforschung (German Edition)
gesundheitsgefährdend. Doch stimmt das überhaupt? In der Intensivmedizin haben viele Ärzte an dieser Art der Risikobewertung schon lange erhebliche Zweifel.
Das Gewichtsparadoxon – Haben dicke Menschen beim Herzinfarkt bessere Überlebenschancen als dünne?
Jörg P. hat einen Body Mass Index von 23 , bei einer Körpergröße von 1 , 81 Meter wiegt er 75 Kilogramm. Sein Gewicht hat er seit Jahren gehalten, obwohl sein Bauch etwas gewachsen ist. Dafür sind seine Arme und Beine weniger muskulös als früher. Auch fühlt sich die Haut dünner an. Doch insgesamt wirkt seine äußere Erscheinung schlank, und der Hausarzt bescheinigt ihm eine gute körperliche Verfassung. Erst vor Kurzem wurden P.’s Blutwerte im Rahmen einer ärztlichen Routine-Untersuchung bestimmt. Alle sind unauffällig: Leber, Blutzucker, Entzündungsmarker – alles im grünen Bereich. Lediglich das Cholesterin ist leicht erhöht, aber nicht bedenklich. Sein leicht erhöhter Blutdruck ist mit einem medikamentösen Blutdrucksenker sehr gut eingestellt. P. raucht nicht, trinkt nur mäßig Alkohol und absolviert dreimal pro Woche sein Lauftraining. Das ist ihm als Ausgleich wichtig, weil er in seinem Job als Leiter einer Berufsschule sehr eingespannt ist und auch das Familienleben mit zwei Kindern im Jugendlichenalter ihn viel Energie kostet. Müsste Jörg P. ein Protokoll seines täglichen Befindens anfertigen, würden darin Sätze stehen wie: »Ich habe das Gefühl, den ganzen Tag unter Strom zu stehen. Abends fühle ich mich müde und erschöpft. Ich grüble viel und wälze Probleme, deren Lösung mir schwer vorstellbar erscheint.« Vor drei Wochen wurde Jörg P. 51 Jahre alt – jetzt befindet er sich auf einer Trage in einem Notarztwagen. Verdacht auf Herzinfarkt. Es ist sein erster, doch der wird von den behandelnden Ärzten in der Notaufnahme der Uniklinik gleich als besonders schwer erkannt. P. wird auf die Intensivstation verlegt und sofort mit einem Herzkatheter-Eingriff behandelt. Er liegt in einem Zimmer mit Sven Z., der am Morgen desselben Tages eingeliefert worden ist – ebenfalls mit einem Herzinfarkt. Auch Z. ist 51 , doch sein Body Mass Index beträgt 32 . Er ist 1 , 76 Meter groß, wiegt 99 Kilo. Sein Arzt hatte ihn bereits mit 35 Jahren vor den Folgerisiken seines Körpergewichts für Herz und Gefäße gewarnt. Z. ist aber dick geblieben. Jetzt fürchtet er um sein Leben. Doch bereits Stunden später können die Ärzte Entwarnung geben, und fünf Tage später kann Sven Z. die Intensivstation verlassen. Er beginnt bald danach eine Reha-Maßnahme. Sein Herz hat sich vom Infarkt einigermaßen erholt und ist stabil. Jörg P., der schlanke Mann, der am gleichen Tag wie Sven Z. ins Krankenhaus kam, hat es hingegen nicht geschafft. Er ist noch in derselben Nacht auf der Intensivstation gestorben.
Fallgeschichten wie diese ereignen sich täglich in deutschen Kliniken. Immerhin erleiden in Deutschland jährlich etwa 280 0 00 Menschen einen Herzinfarkt – Frauen und Männer, dicke Menschen und dünne. Und doch wirken die Verläufe der Erkrankungen bei Jörg P. und bei Sven Z. irritierend. Dass Sven Z. wahrscheinlich eines Tages einen Infarkt erleiden würde, hat ihm der Arzt lange vorher angekündigt. Doch Jörg P.? Schlank und sportlich, zählte er eigentlich gar nicht zur Risikogruppe – und doch hat er nicht nur im gleichen Alter wie Sven Z. einen Infarkt erlitten, sondern ist sogar daran gestorben. Und das ist keineswegs ein ungewöhnlicher Einzelfall.
Unangenehme Frage: Ist Gewichtszunahme überhaupt ein Risikofaktor für die Gesundheit?
Um die Jahrtausendwende begannen Nierenspezialisten, weltweit über ein Phänomen zu diskutieren, dem sie die Bezeichnung »Gewichtsparadoxon« gaben. Ihnen war aufgefallen, dass – wider Erwarten – dicke Patienten, die mit Hilfe der »künstlichen Niere« (Dialyse) dauerhaft behandelt wurden, deutlich bessere Überlebenschancen haben als dünne. Schnell stellte sich heraus, dass diese Beobachtung nicht nur für Erkrankungen wie Nierenversagen gilt, sondern auch für Schlaganfälle oder Hirnblutungen, Herzinfarkte, Herzschwäche, Lungenversagen, Leberversagen, Blutvergiftungen und Typ 2 Diabetes mellitus. Bis heute wurde das Phänomen in zahlreichen Studien untersucht, die die Vermutung der Nierenspezialisten bestätigten: Unabhängig von der Erkrankung, sei es Herzinfarkt oder Schlaganfall, haben dicke Patienten im akuten Fall ein deutlich niedrigeres Sterberisiko als dünne. Aber
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