Mythos Übergewicht: Warum dicke Menschen länger leben. Was das Gewicht mit Stress zu tun hat - überraschende Erkenntnisse der Hirnforschung (German Edition)
überwacht wurden – einen enormen Energiebedarf im Gehirn erzeugte. Die Probanden, die nach dem Experiment ausgiebig aßen (es gab ein üppiges Buffet zur Erholung), hatten schon bald wieder normalisierte Cortisolwerte und fühlten sich wieder wohl. Eine Kontrollgruppe bekam hingegen nur schmale Kost. Noch zwei Stunden später fühlten sich die Teilnehmer erschöpft und müde.
In der Wiederholung, die anschließend durchgeführt wurde, wurden ausschließlich dicke Probanden verpflichtet. Und jetzt passierte etwas Erstaunliches – das Ansprechen der Cortisolwerte fiel während der Experimentierphase auffällig gering aus. Tatsächlich reagierte das Stresssystem der dicken Probanden im Vergleich zu der schlanken Kontrollgruppe träger – also in einer niedrigreaktiven Weise.
Die gewichtigen Probanden blieben zwar gleichbleibend während der zehnminütigen Stressphase wach, wurden aber nicht wacher (bzw. nervöser, aufgeregter oder ängstlicher, so wie die dünnen Probanden. Dementsprechend war auch der Energiebedarf des Gehirns durch die Prüfungssituation bei der dicken Gruppe nicht erhöht. Das Lübecker Experiment lieferte somit einen entscheidenden wissenschaftlichen Beleg, dass das Gehirn von Menschen mit höherem Körpergewicht weniger stressempfindlich reagiert.
Wie gesagt – wenn wir davon ausgehen, dass die Zunahme des Körpergewichts unter dauerhaftem Stress eine Strategie des Körpers ist, sich vor den Auswirkungen der Cortisol-Flut zu schützen, dann liegt hier wahrscheinlich auch die Erklärung für das von den Nierenspezialisten beschriebene Gewichtsparadoxon. Zustände mit hohem Cortisol verkürzen die Lebenserwartung – und das maßgeblich durch Herz- und Kreislaufprobleme bis hin zu Schlaganfall. Eines können wir also bereits jetzt als gesichert annehmen – zwischen dem Körpergewicht, dem Cortisolspiegel, dem Ansprechen des Stresssystems und der Wahrscheinlichkeit, einen Herzinfarkt zu erleiden und zu überleben – oder nicht, besteht ein starker und enger Zusammenhang. Und dieser neue Zusammenhang aus der Hirn- und Stressforschung ist nicht mehr wegdenkbar.
Jetzt könnte man sagen: »Wunderbar – esse ich halt mehr, genieße mein Leben und sterbe später …« Doch die Sache hat einen Haken: Wir können nicht frei entscheiden, ob wir Typ A oder B sind. Und welchem Typ wir angehören, das offenbart sich oft erst im Laufe des Lebens – aber nur dann, wenn wir erheblich mit Stress belastet sind. Meist zeigt sich so etwas erst im zweiten oder dritten Lebensjahrzehnt. Doch ist diese Entwicklung schicksalhaft – müssen wir also zeitlebens Typ A oder B bleiben? Anders gefragt: Wenn wir einmal dick und einigermaßen entspannt oder dünn und sehr gestresst sind – werden wir unausweichlich so bleiben? In der Realität passiert tatsächlich vielen – vielleicht sogar den meisten Menschen – genau dies. Sie schreiben zeitlebens an ihrer Stressbiografie und fügen ihr – oft sogar, ohne dass es ihnen bewusst ist – immer weitere Kapitel hinzu, die von Überforderung, Ängsten oder unbewältigten Konflikten handeln. Auf einem derart geprägten Lebensweg bleiben die Stressmuster der Typen A und B unweigerlich erhalten. Ja – manchmal verstärken sie sich sogar noch. Und dennoch gibt es Möglichkeiten, das Cortisol einzudämmen und den Stressmodus zu verlassen. Doch dazu müssen sich einige Dinge im Leben verändern.
Lange Zeit wurden die Beobachtungen zum Gewichtsparadoxon als Sonderfälle abgetan, die nur für schwerkranke Menschen wie zum Beispiel Herzinfarktpatienten zutreffen. Kürzlich bestätigten allerdings drei große Studien aus Dänemark, Großbritannien und Mauritius, dass auch bei jüngeren Menschen aus der Allgemeinbevölkerung gilt: Diejenigen mit einem höheren BMI haben bessere Überlebenschancen. Diese Beobachtungen liefern damit entscheidende Belege, dass es sich beim Gewichtsparadoxon nicht bloß um eine medizinische Kuriosität, sondern ein grundlegendes biologisches Prinzip handelt.
Kehren wir noch einmal zu Botticellis Venus zurück. Wie gesagt: Nach der derzeit gültigen medizinischen Beurteilung befindet sie sich an der Grenze zum riskanten »Übergewicht«. Doch die Einsichten der Hirn- und Stressforschung zum Gewichtsparadoxon – die sich auf den unterschiedlichen Wandlungsfähigkeiten der A- und B-Typen beim Wechsel von einer stressfreien in eine stressvolle Umgebung begründen – zeigen uns, dass Botticelli und seine Zeitgenossen recht hatten: Als Bewohnerin
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