Mythos
Philipp von Hutten nicht erreicht.
Das bedeutete aber doch gerade, dass der Schatz noch immer dort sein würde, wo Ritz ihn entdeckt hatte. Und viele Konquistadoren mochten ja einem Mythos gefolgt sein. Ritz aber schien ganz genau zu wissen, was er von Hutten da versprach. Tilly war sogar überzeugt, dass der Schweizer Landsknecht den Schatz mit eigenen Augen gesehen hatte.
Leider aber war sie keinen Schritt weiter in der Frage, wie sie den Geheimtext entschlüsseln könnte.
Freitag, 5. Juni, Sevilla, Spanien
Ein Regenschauer ging über Sevilla nieder. Die Luft war angenehm kühl. Nora Tilly ließ die schwere Tür des Indienarchivs hinter sich ins Schloss fallen und zog das Seidentuch enger um ihren Hals. Nachdem die Originale der Texte von Juan de la Torre und seiner Begegnung mit dem Teufel für sie derzeit unerreichbar waren, hatte sie den ganzen Tag nach Dokumenten gesucht, die mit den deutschen Konquistadoren – insbesondere mit Ritz und seiner Reise nach Peru 1538 bis 1539 – zu tun hatten. Sie brannte darauf, den Derrotero zu entschlüsseln. Aber sie war unsicher, ob sie es schaffen würde, und hatte gehofft, irgendwelche Hinweise zu finden, die ihr helfen könnten. Aber es schien keine weiteren Dokumente im Zusammenhang mit Caspar Ritz zu geben.
Jetzt hatte sie frustriert aufgegeben. Wieder ging ihr der Gedanke durch den Kopf, dass Padre Belotti vermutlich eine Kopie deo zine Kops Textes von Juan de la Torre besessen hatte, die sich vielleicht noch in seiner Wohnung befand. Und vielleicht enthielt der Torre-Text noch Hinweise auf die Reise von Caspar Ritz.
Wenn sein Mörder, der Mann in der Regenjacke, nach dem Derrotero von Ritz gesucht hatte, dann hatte er vielleicht die Kopien der Papiere von de la Torre an sich genommen. Aber vielleicht auch nicht.
Sie schaute sich um. Zu keinem Zeitpunkt hatte sie bisher das Gefühl gehabt, dass ihr jemand folgte. Belottis Mörder wusste demnach wirklich nicht, wer sie war. Vielleicht sollte sie doch die Wohnung des Mönches durchsuchen. Sie hatte zwar keine Ahnung, ob sie hineinkommen konnte, aber einen Versuch war es wert, oder?
Als sie vor der dunklen Fassade des Gebäudes in der Santas Patronas stand, wurde sie unsicher. In den Zeitungen hatte sie nichts über einen Mord gelesen. Ob Belottis Leiche noch dort oben lag? Ach was, inzwischen hatte mit Sicherheit jemand den Toten entdeckt. Und wenn nicht … ein Toter würde ihr ja nichts tun.
Auf Zehenspitzen betrat sie den dunklen Flur zum zweiten Mal. Aus den Wohnungen drangen laute Stimmen. Nur Belottis Räume schwiegen sie durch die Tür hindurch an. Was würde dort auf sie warten?
Nichts deutete darauf hin, dass die Polizei hier gewesen war. Die Tür war nicht versiegelt wie in den Fernsehkrimis. Sie drückte die Klinke hinunter. Die Tür klemmte im Rahmen, ließ sich aber mit einem kräftigen Ruck öffnen. Sie horchte in den Flur. Nichts.
Sie schlich durch die halbdunkle Diele. Die Klimaanlage brummte leise. In der Luft lag ein feiner Duft, als hätte jemand Kaffeebohnen gemahlen. Auf jeden Fall roch es nicht nach Tod, stellte sie erleichtert fest.
Im Wohnzimmer waren die Vorhänge beiseitegeschoben. Durch das vergitterte Fenster fiel das Licht der Abendsonne herein.
Sie atmete auf. Das Zimmer war leer. Der Stuhl, auf dem Belotti gestorben war, stand vor einem Sekretär unter dem Fenster an der Wand. Ein kleines Sofa mit einem niedrigen Tisch stand gegenüber dem Fernseher. Also hatte jemand den toten Mönch entdeckt und seinen Leichnam fortgeschafft. Der Mörder? Andere Hausbewohner?
Tilly atmete tief durch und straffte die Schultern. Also los!
Der kleine, alte Sekretär aus Rosenholz war offensichtlich Belottis Arbeitsplatz gewesen. Ein alter 14-Zoll-Bildschirm auf einem Desktop-Computer und die zugehörige Tastatur nahmen den größten Teil der Schreibfläche ein. Die mit filigranen Intarsien verzierten Schubfächer des Aufsatzschrankes waren unverschlossen, enthielten aber nur Schreibutensilien, Heftklammern, Briefmarken, Kleberollen und ähnlichen Kleinkram. Briefe und lose Papiere füllten die Sortierfächer links und rechts von der Arbeitsfläche. Rechnungen, Quittungen, die Broschüre eines Pizzalieferdienstes.
Die Schubladen unter der Arbeitsfläche waren abgeschlossen. Darum würde sie sich gleich kümmern. Sie wandte sich den Wandregalen links und rechts vom Fenster zu. Die meisten der Bücher beschäftigten sich mit Glaubensfragen. Sie nahm einige heraus und ließ die Seiten durch die
Weitere Kostenlose Bücher