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N. P.

N. P.

Titel: N. P. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Banana Yoshimoto
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Ton, der immer wieder auszusetzen scheint, machte mich hellwach.
    »Ist was passiert?«
    Im Zimmer wurde es wieder dämmrig-still, und ich sah auf die Uhr: Es war fünf Uhr morgens. Durch den Spalt im Vorhang konnte ich den bleigrauen Himmel der Morgendämmerung sehen. Immer noch Regenzeit, dachte ich träge.
    »Nein, nichts. Ich ruf nur so an«, sagte sie.
    »Du hast wieder nicht an den Zeitunterschied gedacht. Hier ist es fünf Uhr morgens!« sagte ich.
    »Entschuldigung!« lachte meine Schwester. Sie war mit einem Ausländer verheiratet und lebte in London.
    »Wie spät ist es bei euch?«
    »Acht Uhr abends.«
    Die Vorstellung des Zeitunterschieds bereitet mir jedesmal Unbehagen. Daß die Telefonleitung überhaupt eine Verbindung herzustellen vermag, grenzt für mich an ein Wunder.
    »Alles klar bei dir?« fragte ich.
    »Ich hab von dir geträumt«, sagte sie. »Ich hab geträumt, ich hätte dich bei uns in der Straße gesehen. Du gingst Arm in Arm mit einem bedeutend älteren Mann.«
    »Bei uns … du meinst in London?«
    »Ja, hinten bei der Kirche.«
    »Wär das schön, wenn dein Traum wahr würde!« sagte ich glücklich. Die Träume meiner Schwester wurden oft wahr, schon immer.
    »Ihr saht aber beide traurig aus. Ansprechen konnte ich euch nicht. Der Mann war groß und schien nervös zu sein. Er trug einen weißen Pullover. Komischerweise hattest du eine Schuluniform an. Das war so typisch, deshalb hab ich sofort an ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann gedacht.«
    »Ich hab kein Verhältnis mit einem verheirateten Mann«, sagte ich, doch mir schauderte. Der Mann, den meine Schwester im Traum Arm in Arm mit mir gesehen hatte, war zweifellos Shōji.
    Sie hatte Shōji aber nie gesehen.
    »Mein sechster Sinn läßt wohl nach, was?«
    »Scheint so. Kein Treffer diesmal«, sagte ich und überlegte. Was dieses Vorzeichen wohl zu bedeuten hatte? In letzter Zeit war Shōji auch mir wieder häufiger in den Sinn gekommen. Aber nicht als Erinnerung. Wie in einer Rückblende war sein Gesicht vielmehr plötzlich am Regenhimmel, auf naßschwarzem Asphalt oder im blitzenden Schaufenster an der Straßenecke erschienen. Obwohl ich es lange vergessen hatte.
    »Und wie gehts deinem Mann?«
    »Gut, gut. Im Winter kommen wir euch in Japan besuchen. Siehst du Mutter öfter?«
    »Ja, manchmal. Sie vermißt dich.«
    »Bestell ihr viele Grüße. Na dann, bis bald. Tut mir leid, daß ich dich geweckt habe. Ich ruf wieder an.«
    »Rechne aber gefälligst vorher aus, wie spät es hier ist!«
    »Ich werds mir zu Herzen nehmen. Und du paß auf, daß du dich nicht unglücklich in einen verheirateten Mann verliebst!« lachte meine Schwester.
    »Ja, ja«, sagte ich und legte auf.
    Als der Hörer wieder auf der Gabel lag, bekam die Stille im Raum deutliche Konturen, wurde drückend. Das Blau vor Tagesanbruch.
    Es ließ mir keine Ruhe. Ich stand auf, öffnete die Tür zum unteren Schreibtischfach, nahm die so selten geöffnete Schachtel heraus und hob den Deckel ab. Der alte Umschlag mit der Aufschrift N. P., der Aktenordner und die ungemein schwere Rolex.
    Shōjis Vermächtnis.
    Er hatte sich vor vier Jahren mit Schlaftabletten das Leben genommen. Und seither, seit ich diese drei Gegenstände besitze, haben sie in meinem Herzen ihren festen Platz.
    Ich brauche zum Beispiel nur an meinem Arbeitsplatz im Seminarraum zu sitzen und zufällig von irgendwoher in der Stadt Sirenen heulen zu hören. Noch während ich mich frage, ob es aus der Richtung meiner Wohnung kommt, tauchen diese drei Gegenstände schon vor mir auf. So ganz aus meinem Bewußtsein verschwunden sind sie nie.
    Wie um mich ihrer zu vergewissern, nahm ich sie in die Hand. Dann legte ich sie sorgfältig an ihren Platz zurück und ging wieder ins Bett. Ich schlief noch einmal ein.

 
     
     
    B is ich zu studieren begann, lebte ich mit meiner Mutter und meiner Schwester zusammen.
    Unsere Eltern ließen sich scheiden, als ich neun und meine Schwester elf war. Der Grund: mein Vater hatte sich in eine andere Frau verliebt.
    Meine Mutter, die bis dahin als Dolmetscherin ständig außer Haus tätig gewesen war, beschränkte sich danach uns zuliebe auf Übersetzungsarbeiten, die sie zu Hause erledigen konnte. Sie nahm jede Art von Übersetzung an, von Rohübersetzungen bis zu Übertragungen von Interviews.
    Es war zwar traurig, daß Vater nicht da war, aber dieses Leben zu dritt machte Spaß. Mehrmals täglich mußten wir Alter und Rolle tauschen. Eine weinte, eine tröstete, eine

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