Na endlich Liebling
Statt dessen saß sie auf der niedrigen
Fensterbank und dachte über die Ereignisse des Tages nach. Und über die
Menschen hier. Alle waren so, wie sie erwartet hatte. Diana war wirklich schön;
John war ihrer würdig; und das war das höchste Kompliment, das Elaine ihm
machen konnte. Clive sah netter aus, als sie vermutet hatte, aber er hatte wohl
wenig Humor, und seine verwirrt unglückliche Miene war ergreifend. Philip Ross
hielt sie für einen hoffnungslosen Fall; er war vielleicht intelligent, aber
ein Egoist bis ins Mark. Dieser Egoismus ging ihrer Generation am meisten gegen
den Strich — die Tyrannei der Eltern gegen ihre Kinder. Miß McLean war ein
Schatz, mit dieser Lehrerin konnte sich der Distrikt glücklich preisen.
Seltsam, daß sie nicht geheiratet hatte! Und Mrs. Neal, ihre liebenswürdige Gastgeberin? Man mußte sie einfach gern haben. Doch
Elaine hatte das unbestimmte Gefühl, daß hinter ihrer geschäftigen Emsigkeit
sich etwas verbarg — aber vermutlich waren alle Witwen im Grunde doch traurig.
Elaine mußte über sich selbst lächeln. Richtig sentimental und romantisch war
sie heute — vielleicht weil es Weihnachtsabend war, und weil sie Justin
wiedergesehen hatte. Geheimnisse paßten doch wohl
nicht zu Mrs. Neal.
Bei Percy gab es bestimmt keine
Geheimnisse. Für Elaine war er »ein richtiger Goldkopf «.
Justin hatte entschieden Glück gehabt, daß er an ihn geraten war. Man konnte
von Percy viel lernen, obwohl er es mit Grammatik und Aussprache nicht so genau
nahm. Wäre sie fünfzig Jahre früher zur Welt gekommen, hätte Elaine ihn als
echten Gentleman bezeichnet. Sie lachte selbst über diese schrecklich
altmodische Ausdrucksweise.
Zum Schluß kam mit einigem
Widerstreben noch Sally an die Reihe. Sally mit ihrem verschossenen Badeanzug,
der viel zu knapp war, mit einem Kleid, das ihr nicht stand, mit dem falschen
Lippenstift. Aber auch, wie Elaine zugeben mußte, mit ihren schönen grauen Augen,
der weichen bräunlichen Haut, mit ihren Locken, ihrer sanften Stimme und ihrer
Schüchternheit. Sally war, trotz ihrer Einfachheit — oder vielleicht gerade
deswegen — eine ernsthafte Rivalin. Mit einem schmerzhaften Stich erinnerte sie
sich an den Anblick, wie Justin sie in den Armen gehalten hatte, um sie vor
einem bösen Sturz zu bewahren. Wie ein Held war er dagestanden. Welcher Mann
tut das nicht gern? Wer sollte es ihm verübeln? Elaine hatte ihre Augen nie vor
den Tatsachen verschlossen: sie fand Sally hübscher, als Justin sie geschildert
hatte, und bedeutend reizvoller.
Er hatte ein bißchen sein Herz
verloren — vielleicht nur für kurze Zeit, aber es war nicht zu leugnen. Was
sollte sie tun? Sie versuchte, gerecht zu sein. Als sie jene verrückte Wette
abschlossen, hatte sie in ihrem albernen Selbstbewußtsein gesagt, sie sollten beide frei sein. Wenn er sich in eine ländliche Maid
verlieben würde, brauche er keine Gewissensbisse zu haben. Sally war kein
ländlicher Typ, aber Justin hatte sich ein bißchen in sie verliebt, obwohl er
es nicht zugeben würde. In diesem Fall mußte sie ihr Wort halten, ganz ohne
Groll. Um wirklich fair zu sein, mußte sie eigentlich sofort abreisen.
Ehe sie sich zurückzogen, hatte Mrs. Neal gesagt: »Bleiben Sie doch ein paar Tage
hier. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir Gesellschaft leisteten. Es ist ja
kein Mensch im Haus. Meine Köchin, eine piekfeine Dame, an der ich wenig Hilfe
habe, wird nicht vor Neujahr zurückkommen. Die Camps sind leer und meine
Pension auch.«
Sollte Elaine ihre Einladung
annehmen? Wäre es nicht klüger und diplomatischer, gleich weiterzufahren?
Zumindest wäre es eine faire Geste.
Fair. Plötzlich entdeckte
Elaine, daß sie nicht den geringsten Wunsch hatte, fair zu sein. Es war dumm
von ihr gewesen, Justin ziehenzulassen . Dafür mußte
sie jetzt büßen, aber es gab keinen Grund, weshalb sie — und vielleicht auch er
— den Rest ihres Lebens dafür büßen sollten. Sie wollte ihn nicht verlieren,
wegen Sally fühlte sie keine Gewissensbisse; schließlich hatte sie ihren Clive,
und mit Justin würde sie wohl kaum ganz glücklich werden.
Doch hier hielt Elaine inne.
Konnte sie dessen so sicher sein? Vielleicht paßten sie besser zueinander, als es den Anschein hatte. Es wäre natürlich leichter
für sie, wenn sie vorgab, daß sie nur das Beste für ihn wolle. Aber Elaine war
nicht der Mensch, der sich etwas vormachte; das hatte Diana ganz richtig
erkannt. Sie fühlte zwar, daß sie Justin glücklicher
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