Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nach alter Sitte

Nach alter Sitte

Titel: Nach alter Sitte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Breuer
Vom Netzwerk:
ungewohnte sportliche Betätigung hatte eine angenehme Bettschwere ausgelöst. Doch dann hatte er wider Erwarten kein Auge zugetan. Nun spürte er Stellen an seinem Körper, die er vorher gar nicht an sich gekannt hatte. Oder vielleicht doch – vor langer Zeit.
    Lorenz befürchtete, dass seine nächtliche Unruhe keineswegs den drohenden Schatten kommender Ereignisse geschuldet war. Vielmehr schien es, als sei viel zu lange gar nichts geschehen, als ob sich dies womöglich auch gar nicht mehr ändern könnte. Er war nun fünfundsiebzig Jahre alt, verwitwet und Insasse eines beschaulichen Seniorenheimes. Sollte es das nun gewesen sein?
    Die Vorstellung war beängstigend. Ein wenig Animation, regelmäßige Spaziergänge und die Obacht darauf, dass der Stuhlgang möglichst ebenso regelmäßig vonstattengeht. Der Alte schüttelte sich und versuchte, die unangenehmen Gedanken abzuschütteln. Dann blieb er vor einer Tür stehen, an der ein nüchternes Schild mit der Aufschrift   Sprechzimmer Dr. Ziany   nichts Angenehmes erwarten ließ. Der Alte hob eine Hand, um anzuklopfen, dann hielt er zögernd inne. Natürlich hatte er in Wahrheit seit dem Zubettgehen an kaum etwas anderes denken können als den morgendlichen Termin zur Blutabnahme. Er durfte noch nichts gegessen haben, also musste es vor dem Frühstück sein. »Kommissar Wollbrand war sich der Gefahr, in die er sich nun begab, wohl bewusst. Die Wissenschaftlerin des Syndikats wartete sicherlich bereits mit spitzer Nadel darauf, seine Körperzellen einer eingehenden Untersuchung zukommen zu lassen. Wollte man womöglich einen Superbullen klonen? Oder etwa im Gegenteil den perfekten Verbrecher? Welche Bösartigkeiten verbargen sich in diesem Laboratorium? Der erfahrene Ermittler wusste genau, er konnte das Geheimnis nur lüften, indem er durch diese Tür gehen würde.«
    Durch diese Vorrede ermutigt klopfte Lorenz an und öffnete die Tür. Die Ärztin saß hinter einem riesigen Schreibtisch, neben dem ein menschliches Skelett stand. Sie sah von einer Patientenakte auf, von der Lorenz vermutete, dass es sich um die seine handle.
    »Guten Morgen, Herr Bertold«, sagte sie lächelnd. »Nehmen Sie doch bitte gleich da vorn Platz.« Sie wies auf einen etwas abseits stehenden Stuhl, der verdächtig nach dem Ort medizinischer Eingriffe aussah. »Sind Sie auch nüchtern?«
    Lorenz sah die noch ziemlich junge Frau von der Unterkante ihres weißen Kittels bis zu den Augenbrauen über den Rand seiner Brille hinweg an. »Liebe Frau Doktor Zyankali, wann trafen Sie mich zuletzt betrunken an?«
    Das Lächeln der Ärztin wurde bemühter. »Mein Name ist Ziany, wie Sie wissen, lieber Herr Bertold. Und Sie wissen weiterhin genau, was ich mit nüchtern meine. Sie haben also noch nicht gefrühstückt?«
    »Wenn ich behaupten würde, ich käme gerade gesättigt aus dem Speisesaal, werde ich dann vorzeitig entlassen?«
    Die Ärztin, die die Art des Alten sehr wohl kannte und diesem Termin mit ähnlichem Unbehagen entgegengesehen hatte wie Lorenz, seufzte nur wortlos und stand auf, um ein Desinfektionsspray aus dem Schrank zu nehmen. Lorenz setzte sich auf den ihm zugewiesenen Stuhl und beobachtete die Frau, wie sie eine Spritze aus der sterilen Verpackung schälte und auf einem silbernen Tablett bereitlegte. »Dann machen Sie mal einen Arm frei.« Sie hielt plötzlich, ohne dass Lorenz sie danach hätte greifen sehen, eine Schnalle zum Abbinden des zu perforierenden Körperteils bereit. Er krempelte einen Hemdsärmel hoch und bot seine bloßgelegte Armbeuge dar.
    »Dann schauen Sie mal, ob Sie hier meines Lebenssaftes habhaft werden können.«
    Wieder sparte sich die Ärztin eine Entgegnung und begann, den Arm eingehend aus der Nähe zu betrachten. Sie drückte etwas herum, klopfte einmal hier und da, dann ließ sie ein leises »Hm« vernehmen. Lorenz spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. »Was heißt hier ›hm‹? Hier wird nicht ›hm‹ gemacht. Ich dachte, Sie wären ein Profi. Walten Sie Ihres Amtes, und entnehmen Sie bitte kurz und schmerzlos meinem Körper, was Sie benötigen. Ausdrücke der Unsicherheit werden vom Patienten nicht gern vernommen.«
    »Lassen Sie mal stecken, Herr Bertold«, sagte die Ärztin leicht gereizt. »Ich muss nur eine geeignete Vene finden. Das ist bei Ihnen nicht ganz so einfach.«
    »Mein Körper hat im Laufe der Jahrzehnte Abwehrmechanismen gegen seine gewaltsame Öffnung entwickelt. Ich hoffe, Sie wissen, was Sie tun, und wo Sie es tun.« Mit

Weitere Kostenlose Bücher