Nach alter Sitte
Brummbär nicht übel!« Benny Bethge war in den Speisesaal zurückgekehrt. »Er hat eben bei der Blutabnahme den sterbenden Schwan markiert und ist jetzt entsprechend bissig.«
»Was soll denn das?«, fragte Lorenz. »Hat die Klinkenberg dich etwa zurückgeschickt, um hier zu petzen?«
»Hoppla«, grinste Benny. »Er hat es euch nicht erzählt, oder?«
»Hat er nicht«, meinte Bärbel. »Lorenz, was ist denn passiert?«
»Wo bleibt denn das Rührei, verdammt?« Lorenz schien nicht gewillt, der neuen Gesprächswendung zu folgen.
»Iss doch lieber Obst und Müsli zum Frühstück.« Bärbel blieb hartnäckig. »Dann würde es dir bestimmt bessergehen. Und nun sag, was ist bei der Blutabnahme geschehen?«
Da Lorenz keine Anstalten machte, etwas zu erzählen, sprang Benny ein. »Keinen Tropfen Blut hat die Ärztin aus ihm herausbekommen. Der Kreislauf hat komplett gestreikt, und Opa Bertold ist k. o. gegangen und hat die Fliesen unfreiwillig geputzt. Als ich vorbeikam, machte er gerade die Äuglein wieder auf.«
»Verräter«, knurrte Lorenz.
»Das hört sich aber sehr unangenehm an«, bemerkte Alexander Grosjean. Lorenz lag eine scharfe Bemerkung auf der Zunge, doch er verwarf diese und suchte nach einer weniger bösartigen Formulierung. »Nicht so unangenehm, wie Sie vielleicht glauben«, sagte er schließlich. »Für einen Beau wie Sie mag es vielleicht eine schreckliche Vorstellung sein, blutleer zu Füßen einer Ärztin zu liegen, aber ich mache so was beinahe täglich.«
»Lorenz!« Bärbel schüttelte missbilligend den Kopf, konnte sich eines Lächelns aber dennoch nicht erwehren. »Herr Grosjean ist doch kein Beau, was immer du damit meinen magst. Was soll er denn von uns denken, kaum dass er hier angekommen ist?«
»Das ist unserem bissigen alten Kater sicherlich wurscht«, kommentierte Gustav.
»Ich bin dann mal wieder weg!«, fügte Benny Bethge flott hinzu und eilte von dannen.
»Ich hab Hunger«, sagte Lorenz. »Herr Groschen, Sie sehen aus, als wären Sie Zimmerservice gewohnt, aber hier ist Selbstbedienung angesagt. Spart Kosten und hält die alten Glieder auf Trab.« Damit erhob er sich und ging zum Buffet, um sich eine große Portion Ei und Speck aufzuladen. Und da er wusste, dass Bärbel sicherlich wieder seine Essenswahl rügen würde, packte er noch ein paar Würstchen dazu. Das macht vital, wenn es mich nicht umbringt, dachte er. Der Neue soll nicht denken, ich sei ein Schlappschwanz. Dann kehrte er an den Tisch zurück. Überrascht stellte er fest, dass Grosjean nicht mehr dort saß. Er raunte Gustav zu: »Dein neuer Freund scheint ja ein ganz vitaler Bursche zu sein. Dem sprudelt es bestimmt nur so aus der Vene, wenn die Zyankali ihn ansticht. Ist er schon zu ihr unterwegs, um ihr zu zeigen, dass es hier noch starke Männer gibt?«
Gustav grinste. »Man könnte meinen, du wärest eifersüchtig auf Alexander. Also, wenn ich es nicht besser wüsste ...«
»Weißt du aber halt nicht«, maulte Lorenz zurück und ließ sich nieder. Dann begann er zu essen und wunderte sich, dass Bärbel das ganz kritiklos hinnahm.
Gustav meinte: »Alexander ist nicht etwa vor deiner Grobheit geflohen, sondern weil er einen Gesprächstermin mit Frau Klinkenberg hat. Sie möchte ihn begrüßen, da sie gestern Abend keine Gelegenheit dazu hatte.«
»Da wird sie sich sicher freuen«, grummelte Lorenz kauend. »Jetzt hat sie unter ihren greisen Schäfchen auch noch ein Model.«
Bärbel seufzte. »Du hast aber wirklich eine schlechte Nacht und einen schlimmen Morgen hinter dir. Jetzt iss erst mal in Ruhe, und dann machen wir einen Spaziergang durch Nideggen. Ja?«
»Gute Idee, macht ihr das mal«, sagte Gustav, während Lorenz schweigend an einem kleinen Rostbratwürstchen kaute. »Ich habe Alexander für gleich eine Führung durchs Haus versprochen.«
Lorenz zog es vor, weiterhin nichts zu sagen. Insgeheim schalt er sich für seine schlechte Laune. Andererseits, und das war auch die feste Meinung des alten Kommissar Wollbrand, hatte er als Insasse eines Altenheimes, der gerade einen Schwächeanfall und dessen schonungslose Offenlegung vor einem Fremden hinter sich hatte, das Recht auf ein paar kleine Grobheiten. Als er sich zu diesem Gedanken durchgerungen hatte, begann ihm auch das Essen zu schmecken, und er bemerkte die wärmenden hellen Sonnenstrahlen, die über den Park der Seniorenresidenz und durch die Fenster fluteten. Er nahm einen Schluck Kaffee und räkelte sich ungeniert auf dem Stuhl. Jetzt
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