Nach Dem Sommer
vierundzwanzig Stunden würde ich nicht mehr da sein. Ich würde für zwei Wochen mit Rachel an einem weißen Strand in Florida liegen, weit weg von Mercy Falls. Weit weg vom Boundary Wood und vor allem: weit weg von dem leeren Garten.
Langsam spülte ich meinen Thermosbecher aus und sah zum tausendsten Mal in diesem Winter zum Waldrand hinüber.
Nichts als Bäume in verschiedenen Grautönen, ihre schneebeladenen Äste schienen an dem schweren Winterhimmel zu kratzen. Der einzige Farbtupfer war das leuchtende Gefieder eines Kardinalmännchens, das zum Vogelhäuschen flatterte. Es pickte ein wenig
auf dem Holzboden herum und flog dann weiter, ein roter Fleck vor dem weißen Himmel.
Ich wollte nicht in den Garten gehen und durch den unberührten Schnee - frei von Pfotenabdrücken - laufen, doch ich wollte auch nicht, dass das Vogelhäuschen leer blieb, wenn ich morgen fort war. Also holte ich die Tüte mit dem Vogelfutter unter der Spüle hervor und zog Mantel, Mütze und Handschuhe an. Dann ging ich zur Glastür und schob sie auf.
Der Geruch des Winters traf mich hart und erinnerte mich an all die Weihnachtstage, die mir jemals wichtig gewesen waren.
Und obwohl ich wusste, dass ich allein war, zitterte ich auch jetzt.
Kapitel 65 - Sam (-9°C)
I ch beobachtete sie.
Ich war wie ein Geist im Wald, leise, kalt, schweigend. Ich war die Verkörperung des Winters, der eisige Wind als lebendiges Wesen. Ich stand am Waldrand, dort, wo sich das Unterholz langsam lichtete, und kostete die Luft: Zu dieser Jahreszeit waren die meisten Gerüche tot. Der scharfe Duft der Nadelbäume, der Moschusgeruch der Wölfe, der süße Duft von ihr, sonst nichts.
Ein paar Atemzüge lang stand sie in der Tür. Ihr Gesicht war den Bäumen zugewandt, aber ich war unsichtbar, gestaltlos, bloß ein Augenpaar im Wald. Die Windböen trugen ihren Duft zu mir, immer wieder, er erzählte mir in einer fremden Sprache von einem Leben in einem anderen Körper.
Endlich, endlich trat sie auf die Veranda und hinterließ den ersten Fußabdruck im Schnee.
Und ich war hier, so nah, und doch tausend Meilen von ihr entfernt.
Kapitel 66 - Grace (-9°C)
M it jedem Schritt, den ich auf das Vogelhäuschen zuging, kam ich dem Wald ein Stück näher. Ich roch die trockenen Blätter im Unterholz, schmale Bäche, die unter ihrer Eiskruste träge dahinflossen, den Sommer, der in den unzähligen Baumskeletten schlummerte. Etwas an den Bäumen erinnerte mich an die Wölfe, ihr nächtliches Heulen, und das ließ mich an den goldenen Wald aus meinen Träumen denken, der nun unter einer Schneedecke verborgen lag. Ich vermisste den Wald so sehr.
Ich vermisste ihn.
Ich wandte den Bäumen den Rücken zu und stellte den Sack mit dem Vogelfutter neben mir auf dem Boden ab. Ich musste nur noch das Vogelhäuschen auffüllen, wieder ins Haus gehen und meine Sachen packen. Dann konnte ich endlich mit Rachel wegfliegen und versuchen, die Geheimnisse zu vergessen, die sich in diesem Winterwald verbargen.
Kapitel 67 - Sam (-9°C)
I ch beobachtete sie.
Sie hatte mich noch nicht bemerkt. Sie klopfte das Eis vom Vogelhäuschen ab. Langsam, mit mechanischen Bewegungen machte sie es sauber, öffnete es, füllte es auf und schloss es wieder, als sei das die wichtigste Sache auf der ganzen Welt.
Ich beobachtete sie. Wartete darauf, dass sie sich umdrehte und mich, meine dunkle Gestalt im Wald erblickte. Sie zog sich die Mütze über die Ohren und stieß den Atem aus, um ihn als Wolke durch die Luft wabern zu sehen.
Ich konnte mich nicht länger verstecken. Auch ich atmete aus. Das Geräusch war denkbar leise, doch ihr Kopf wandte sich sofort in meine Richtung. Ihre Augen fanden meine Atemwolke und dann mich, dahinter. Ich ging langsam auf sie zu, vorsichtig, unsicher, wie sie reagieren würde.
Sie erstarrte. Stand vollkommen reglos da, wie ein Reh. Ich näherte mich ihr weiter, hinterließ eine zögerliche Spur im Schnee, bis ich aus dem Wald heraus war und direkt vor ihr stand.
Sie war so still wie ich, vollkommen still. Ihre Unterlippe zuckte. Als sie blinzelte, zeichneten drei schimmernde Tränen eine feuchte Spur auf ihre Wangen.
Sie hätte jedes einzelne Wunder vor sich bestaunen können: meine Füße, meine Hände, meine Finger, die Form meiner Schultern
unter der Jacke, meinen menschlichen Körper, doch sie sah mir nur in die Augen.
Der Wind peitschte wieder durch die Bäume, doch er hatte keine Kraft, keine Macht über mich. Die Kälte biss mir in die
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