Nach Dem Sommer
allein.
»Du willst jetzt gehen, stimmt's?«
Olivia nickte. »Ich kann einfach nicht mehr. Ich kann es kaum erwarten, endlich loszulassen.«
Ich seufzte und sah ihr in die Augen, grün und hell. Die musste ich mir einprägen, damit ich sie später auch wiedererkannte. Ich hatte das Gefühl, irgendetwas zu ihr sagen zu müssen, aber mir fiel nichts ein. »Ich gebe deinen Eltern den Brief. Sei vorsichtig. Du wirst mir fehlen, Olive.«
Ich schob die Glastür auf; kalte Luft schlug uns entgegen.
Sie lachte tatsächlich auf, als sie im Wind zu zittern begann. Sie war wie ein fremdes helles Wesen, das ich nicht wiedererkannte. »Wir sehen uns dann im Frühling, Grace!«
Dann rannte sie in den Garten und zog sich dabei die Sweatshirts über den Kopf; und noch bevor sie unter den Bäumen ankam, war sie ein zierlicher, schlanker Wolf geworden - fröhlich, ausgelassen. Irgendetwas tief in mir regte sich bei ihrem Anblick. Traurigkeit oder Neid oder Freude.
Jetzt waren nur noch drei von uns übrig, die drei, die sich nicht verwandelten.
Ich ließ den Motor meines Wagens warmlaufen, aber es half nichts mehr. Eine Viertelstunde später starb Jack. Jetzt waren wir nur noch zu zweit.
Kapitel 63 - Grace (-6°C)
I ch sah Olivia später noch ein paarmal wieder, nachdem ich ihren Eltern den Brief unter den Scheibenwischer geklemmt hatte. Sie bewegte sich leichtfüßig durch den Wald, der im Dämmerlicht lag, ich erkannte sie sofort an ihren grünen Augen. Sie war nie allein dort; die anderen Wölfe begleiteten sie, führten sie, beschützten sie vor den rauen Gefahren des toten Winterwalds.
Ich wollte sie fragen, ob sie ihn gesehen hatte.
Ich glaube, sie wollte mir sagen, dass es nicht so war.
Isabel rief mich ein paar Tage vor den Weihnachtsferien und meiner Reise mit Rachel an. Keine Ahnung, warum sie mich anrief, anstatt einfach rüber zu meinem neuen Auto zu kommen; ich konnte sie deutlich auf der anderen Seite des Schulparkplatzes sehen, wie sie ganz allein in ihrem Geländewagen saß.
»Wie geht's dir?«, fragte sie.
»Ganz gut«, erwiderte ich.
»Lügnerin.« Isabel sah mich nicht an. »Du weißt, dass er tot ist.«
Es war leichter, das am Telefon zuzugeben, wenn ich dabei niemandem ins Gesicht sehen musste. »Ich weiß.«
Auf der anderen Seite des grauen, reifbedeckten Parkplatzes klappte Isabel ihr Handy zu. Ich hörte, wie sie den Gang einlegte und losfuhr. Neben meinem Auto hielt sie an. Es klickte, als sie die
Beifahrertür entriegelte, und dann surrte es, als sie das Fenster herunterfuhr. »Los, steig ein. Lass uns hier abhauen.«
Wir fuhren in die Stadt und holten uns einen Kaffee. Schließlich landeten wir an der Buchhandlung, weil genau davor ein Parkplatz frei war. Isabel warf einen langen, prüfenden Blick auf die Fassade, bevor sie aus dem Auto stieg. Wir standen auf dem vereisten Gehsteig und starrten ins Schaufenster. Alles war voller Weihnachtskram. Nichts als Rentiere, Pfefferkuchen und Ist das Leben nicht schön?.
»Jack hat Weihnachten geliebt«, sagte Isabel. »Ein bescheuertes Fest. Ich feiere das nicht mehr.« Sie deutete auf die Buchhandlung. »Sollen wir reingehen? Ich bin seit Wochen nicht mehr hier gewesen.«
»Und ich war nicht mehr hier, seit -« Ich stockte. Ich wollte es nicht aussprechen. Ich wollte gern hineingehen, aber ich wollte es nicht aussprechen müssen.
Isabel hielt mir die Tür auf. »Ich weiß.«
Der graue, öde Winter machte eine andere Welt aus der Buchhandlung. Das Holz der Regale hatte eine völlig andere Tönung angenommen. Das Licht war reinstes Weiß. Im Hintergrund lief klassische Musik, doch eigentlich bestimmte das Brummen der Heizung die Geräuschkulisse. Mein Blick fiel auf den Jungen hinter der Kassentheke - dunkelhaarig, schlaksig, über ein Buch gebeugt - und einen Augenblick lang hatte ich einen Kloß im Hals, zu dick, um ihn hinunterzuschlucken.
Isabel zerrte so heftig an meinem Arm, dass es wehtat. »Komm, wir suchen uns Bücher, die dick machen.«
Wir gingen hinüber in die Kochbuchabteilung und setzten uns dort auf den Boden. Es war kalt auf dem Teppich. Isabel veranstaltete sofort ein Riesenchaos und zog einen ganzen Stapel Bücher aus dem Regal neben ihr, die sie - wenn überhaupt - in vollkommen falscher Reihenfolge wieder zurückstellte. Ich versank in den ordentlichen gedruckten Titeln auf den Buchrücken und schob die Bücher abwesend so zurecht, dass sie bündig miteinander abschlossen.
»Ich will so richtig dick werden«,
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