Nach Dem Sommer
gibt Völker, die glauben, Fotos rauben einem die Seele. Find ich gar nicht mal so abwegig, also keine Fotos, tut mir leid.« Entschuldigend hob ich die Schultern. »Ansonsten kannst du aber ruhig Fotos im Laden machen, wenn du willst.«
Jetzt drängelte sich das dritte Mädchen neben seine Freundin mit der Kamera: buschiges hellbraunes Haar, eine Unmenge von Sommersprossen und so viel geballte Energie, dass mich schon der Anblick völlig erschöpfte. »Na, flirtest du schon wieder, Olivia? Dafür haben wir jetzt echt keine Zeit. Hi, wir hätten gern das hier.«
Ich nahm ihr Volle Punktzahl aus der Hand und riskierte einen kurzen Blick in die Richtung, in der ich Grace vermutete.
»Neunzehn neunundneunzig«, murmelte ich.
Mein Herz klopfte wie wild.
»Für ein Taschenbuch?«, beschwerte sich das sommersprossige Mädchen, hielt mir aber dann einen Zwanziger hin. »Den Penny kannst du behalten.«
Wir hatten keine Spardose und so legte ich den Penny neben die Kasse auf den Tresen. Wie in Zeitlupe packte ich das Buch zusammen mit dem Kassenzettel in eine Tüte - vielleicht würde Grace ja rüberkommen, um nachzusehen, was da so lange dauerte.
Aber sie blieb in der Ecke mit den Biografien und las die Titel auf den Buchrücken, den Kopf leicht schief gelegt. Die Sommersprossige nahm die Tüte und grinste Olivia und mich breit an. Dann gingen beide zu Grace hinüber und schoben sie zur Tür.
Dreh dich um, Grace. Sieh mich an, ich stehe direkt hinter dir. Wenn sie sich jetzt umdrehte, würde sie meine Augen sehen, die im Sonnenlicht bestimmt noch gelber leuchteten als sonst, und dann müsste sie mich einfach erkennen.
Sommersprosse öffnete die Tür -pling- und winkte den Rest der Herde ungeduldig herbei: Zeit zu gehen. Olivia drehte sich noch einmal zu mir um. Ich wusste, dass ich die Mädchen - Grace - anstarrte, aber ich konnte einfach nicht anders.
Olivia runzelte die Stirn und verschwand nach draußen. »Komm schon, Grace«, drängelte Sommersprosse.
Meine Brust schmerzte. Mein ganzer Körper schien plötzlich eine Sprache zu sprechen, die mein Kopf nicht recht verstand.
Ich wartete.
Aber Grace, die Einzige auf dieser Welt, von der ich erkannt werden wollte, fuhr nur bedauernd mit dem Finger über den Umschlag einer der Neuerscheinungen und verließ den Laden. Ohne auch nur zu bemerken, dass ich da war, ganz in ihrer Nähe.
Kapitel 5 - Grace (7°C)
D ass die Wölfe in unserem Wald Werwölfe waren, begriff ich erst, als Jack Culpeper getötet wurde.
Im September meines dritten Highschooljahres war Jacks Tod das Thema in der Stadt. Dabei war Jack nicht übermäßig beliebt gewesen, als er noch lebte, auch wenn ihm das teuerste Auto auf dem ganzen Schulparkplatz gehörte - den Wagen des Schulleiters eingerechnet. Eigentlich war er sogar ein ziemlicher Idiot gewesen. Aber dann wurde er getötet und prompt zum Heiligen erklärt. Es war die Art und Weise, wie er gestorben war, die jeden in ihren Bann zog, eine grausige Sensation. Fünf Tage nach seinem Tod hatte ich auf den Schulfluren bereits an die tausend unterschiedliche Versionen gehört.
Mit dem Ergebnis, dass nun alle panische Angst vor den Wölfen hatten.
Da Mom selten die Nachrichten schaute und Dad so gut wie nie zu Hause war, dauerte es seine Zeit, bis die allgemeine Panik in ihrem vollen Ausmaß auch bis zu uns durchgedrungen war. In den letzten sechs Jahren war es meiner Mutter über ihren Terpentindämpfen und Komplementärfarben beinahe gelungen, den Vorfall mit mir und den Wölfen zu vergessen. Erst der Angriff auf Jack rief die Erinnerungen wieder wach.
Nicht dass diese Sorge meine Mutter auf den logischen Gedanken gebracht hätte, mehr Zeit mir ihrer Tochter zu verbringen - die ja tatsächlich von Wölfen angegriffen worden war. Stattdessen nahm sie das Ganze zum Anlass, nur noch zerstreuter zu werden.
»Mom, soll ich dir mit dem Abendessen helfen?«
Meine Mutter riss den Blick vom Fernseher los, der vom hinteren Teil der Küche aus gerade noch sichtbar war, und sah mich schuldbewusst an. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder den Pilzen zu, die sie gerade auf einem Schneidbrett malträtierte.
»Das war hier ganz in der Nähe. Wo sie ihn gefunden haben«, sagte Mom und deutete mit der Messerspitze in Richtung Fernseher. Mit betont betroffenem Blick wies der Nachrichtensprecher in die rechte Bildschirmecke, wo eine Karte unserer Gegend und das verschwommene Foto eines Wolfs erschienen. »Die Jagd nach der Wahrheit geht weiter«,
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