Nach Dem Sommer
verkündete er. Man sollte meinen, dass nach einer Woche, in der sie immer wieder von derselben Geschichte berichtet hatten, wenigstens die Fakten stimmten. Aber das Tier auf dem Foto gehörte noch nicht einmal zu derselben Unterart wie mein Wolf, der graues Fell und gelbbraune Augen hatte.
»Ich kann das immer noch nicht glauben«, redete Mom weiter. »Gerade mal auf der anderen Seite vom Boundary Wood. Da ist er umgebracht worden.«
»Oder gestorben.«
Mom runzelte die Stirn, bezaubernd schusselig und wunderschön wie immer. »Was?«
Ich sah von meinen Hausaufgaben auf - diesen beruhigend ordentlichen Reihen aus Zahlen und Symbolen. »Es kann doch sein, dass er einfach am Straßenrand ohnmächtig geworden ist und erst danach in den Wald gezerrt wurde, als er schon bewusstlos war. Das ist doch ein Unterschied. Ich finde, man sollte die Leute nicht grundlos in Panik versetzen.«
Moms Aufmerksamkeit galt nun wieder dem Fernseher, während sie die Champignons in so kleine Stücke häckselte, dass man damit Amöben hätte füttern können. Sie schüttelte den Kopf. »Die haben ihn angegriffen , Grace.«
Ich sah aus dem Fenster zum Waldrand hinüber, einer geisterhaft blassen Linie aus Bäumen in der Dunkelheit. Falls mein Wolf dort draußen war, konnte ich ihn zumindest nicht sehen. »Mom, du warst doch diejenige, die mir andauernd erzählt hat, dass Wölfe im Allgemeinen friedliche Tiere sind.«
Wölfe sind friedliche Tiere. Über Jahre hinweg waren das Moms Worte gewesen. Ich glaube, die einzige Möglichkeit für sie, weiter in diesem Haus zu leben, war, sich selbst von der relativen Harmlosigkeit der Wölfe zu überzeugen und sich einzureden, dass der Angriff auf mich nur eine Ausnahme gewesen war. Ich weiß nicht, ob sie jemals wirklich geglaubt hatte, dass die Wölfe harmlos waren - ich jedenfalls glaubte fest daran. Jedes einzelne Jahr meines Lebens hatte ich die Wölfe im Wald beobachtet, mir ihre Gesichter und Persönlichkeiten eingeprägt. Sicher, da gab es diesen gescheckten, krank aussehenden Wolf, der nie so richtig aus dem Wald hervorkam und sich nur in den allerkältesten Monaten zeigte. Alles an ihm - sein stumpfes, strähniges Fell, die Kerbe in seinem Ohr, das brandig tränende Auge - deutete auf einen kranken Körper hin. In den wild rollenden Augen aber schien bisweilen auch ein kranker Geist aufzublitzen. Ich dachte daran, wie seine Zähne meine Haut geritzt hatten. Bei ihm konnte ich mir vorstellen, dass er im Wald noch mehr Menschen angriff.
Und dann war da diese weiße Wölfin. Ich hatte gelesen, dass Wölfe sich Partner fürs Leben suchten, und hatte sie mit dem Anführer des Rudels gesehen, einem massigen Tier, das so schwarz war wie sie selbst weiß. Ich hatte beobachtet, wie er sanft ihre Schnauze be-schnupperte und sie durch die kahlen Baumgerippe führte. Sein Pelz schimmerte wie die Schuppen eines Fisches. Sie hatte so eine wilde, rastlose Schönheit an sich; auch bei ihr konnte ich mir vorstellen, dass sie einen Menschen angriff. Aber der Rest des Rudels? Sie waren wie schöne, stumme Waldgeister. Vor ihnen fürchtete ich mich nicht.
»Friedlich, klar.« Mom hackte auf das Schneidbrett ein. »Vielleicht sollten sie sie einfach alle einfangen und in Kanada oder sonst wo aussetzen.«
Ich starrte düster auf meine Hausaufgaben. Die Sommer ohne meinen Wolf waren schon schwer genug. Als Kind waren mir diese Monate unvorstellbar lang vorgekommen, eine Zeit, die ich einfach abwarten musste, bis die Wölfe zurückkamen. Und es war nur noch schlimmer geworden, nachdem ich meinen gelbäugigen Wolf zum ersten Mal gesehen hatte. Während dieser langen Monate hatte ich mir ausgemalt, wie ich mich nachts in einen Wolf verwandelte und zusammen mit meinem Wolf davonlief - in einen goldenen Wald, in dem es nie schneite. Heute wusste ich, dass es diesen goldenen Wald nicht gab, das Rudel aber - und meinen Wolf mit den gelben Augen - gab es sehr wohl.
Seufzend schob ich mein Mathebuch über den Küchentisch und gesellte mich zu Mom an die Arbeitsplatte. »Lass mich das lieber machen. Du machst noch Mus draus.«
Sie protestierte nicht, und das hatte ich auch nicht erwartet. Dankbar lächelte sie mich an und stürmte davon, als hätte sie nur darauf gewartet, dass ich bemerkte, wie erbärmlich sie sich anstellte. »Meine Heldin! Sag Bescheid, wenn s fertig ist, ja?«, flötete sie.
Ich verzog das Gesicht und nahm das Messer von ihr entgegen. Mom war eigentlich immer voller Farbspritzer und mit
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