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Nach Dem Sommer

Nach Dem Sommer

Titel: Nach Dem Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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Mit einem dumpfen Seufzen drückte er seinen Kopf an meinen Körper, die Augen noch immer geschlossen. Ich hielt ihn im Arm, als wäre er nichts weiter als ein Schoßhund. Nur sein wilder, strenger Geruch erinnerte mich an das, was er wirklich war.
    Einen Moment lang vergaß ich, wo - und wer - ich war. Einen Moment lang war das alles gleichgültig.
    Aus dem Augenwinkel sah ich eine Bewegung: Am Waldrand, in der Dämmerung kaum zu erkennen, stand die weiße Wölfin. Ihre Augen glühten.
    Ich spürte ein plötzliches Grollen an meinem Körper und merkte, dass mein Wolf sie anknurrte. Unerwartet forsch kam die Wölfin näher, und er wandte in meinen Armen den Kopf, um sie anzusehen. Ich erschrak, als er nach ihr schnappte.
    Sie knurrte nicht und irgendwie war das sogar noch schlimmer. Ein Wolf hätte doch knurren müssen. Sie aber starrte uns bloß an, ihr Blick flog zwischen ihm und mir hin und her. Ihr gesamter Körper drückte Hass aus.
    Noch immer leise knurrend, drängte mein Wolf sich enger an mich und zwang mich einen Schritt zurück, dann noch einen. So lange, bis ich schließlich wieder an der Veranda stand. Meine Füße ertasteten die Stufen, dann war ich an der Schiebetür. Er blieb am Fuß der Treppe stehen, bis ich die Tür aufgeschoben hatte und sicher im Haus war.
    Kaum hatte ich die Tür hinter mir geschlossen, stürzte sich die weiße Wölfin auf das Stück Fleisch, das immer noch auf dem Boden lag. Obwohl mein Wolf ihr viel näher war und ihr leicht das Fleisch hätte streitig machen können, starrte sie nur mich hinter der Glastür an. Eine ganze Weile sah sie mir direkt in die Augen, dann verschwand sie wieder wie ein Geist im Wald.
    Mein Wolf blieb zögernd am Waldrand stehen, das matte Verandalicht spiegelte sich in seinen Augen. Noch immer beobachtete er mich hinter der Scheibe.
    Ich drückte meine Handfläche an das eiskalte Glas.
    Er schien mir so weit entfernt wie nie zuvor.

  Kapitel 6 - Grace (6°C)
    A ls mein Dad nach Hause kam, war ich noch immer wie versunken in der stillen Welt der Wölfe. Immerzu meinte ich, das drahtige Fell meines Wolfs zwischen den Fingern zu spüren. Zwar hatte ich mir widerstrebend die Hände gewaschen, damit ich das Abendessen fertig kochen konnte, aber sein Moschusgeruch hing immer noch in meinen Kleidern und erinnerte mich ständig an unsere Begegnung. Sechs Jahre hatte es gedauert, bis ich ihn berühren durfte. Ihn umarmen durfte. Und nun hatte er mich beschützt, wie er mich schon immer beschützt hatte. Ich hätte es so gern jemandem erzählt, aber Dad wäre wohl nicht ganz so begeistert gewesen wie ich, besonders weil die Nachrichtensprecher im Hintergrund immer noch über den Wolfsangriff schwadronierten. Also hielt ich den Mund.
    Gerade kam Dad in die Diele gestapft. »Das riecht aber lecker, Grace«, rief er schon, ohne mich in der Küche gesehen zu haben.
    Er kam herein und tätschelte mir den Kopf. Seine Augen hinter den Brillengläsern wirkten müde, doch er lächelte. »Wo ist denn deine Mutter? Malt sie schon wieder?« Er warf seinen Mantel über einen Stuhl.
    »Als ob sie jemals was anderes machen würde.« Stirnrunzelnd deutete ich auf den Mantel. »Den willst du doch wohl nicht da liegen lassen, oder?«
    Mit einem versöhnlichen Lächeln hob er ihn wieder auf und rief die Treppe hinauf: »Klecks, Essen ist fertig!« Er rief Mom bei ihrem Spitznamen, also war er wohl gut gelaunt.
    Kaum zwei Sekunden später kam meine Mutter auch schon die Treppe heruntergeflitzt - ganz außer Atem, sie ging nie in einem normalen Tempo, wenn sie es vermeiden konnte. Ein grüner Farbstreifen zierte ihre Wange.
    Dad gab ihr einen Kuss und versuchte, sich dabei nicht auch noch mit Farbe zu beschmieren. »Na, bist du heute brav gewesen, mein Schatz?«
    Sie klimperte mit den Wimpern, und man sah ihr an, dass sie genau wusste, was er sagen würde.
    »Brav? Na klar, ich war die Allerbravste.«
    »Und was ist mit dir, Gracie?«
    »Ich war noch viel braver als Mom.«
    Dad räusperte sich. »Meine Damen und Herren, hiermit möchte ich Ihnen meine Gehaltserhöhung ankündigen. Das heißt...«
    Mom klatschte in die Hände und wirbelte einmal im Kreis, nicht ohne sich dabei im Dielenspiegel zuzusehen. »Dann kann ich ja das Atelier in der Stadt mieten!«
    Dad grinste und nickte. »Und du, Gracie-Schatz, du tauschst deine Schrottkarre gegen was Anständiges um, sobald ich Zeit habe, mit dir runter zum Autohändler zu fahren. Mir reicht's, die Klapperkiste andauernd in die

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