Nach der Hölle links (German Edition)
endlich ihren Job machen sollten.
Nach einer Viertelstunde hatte die Tablette ihre Wirkung entfaltet, und es ging ihm ein wenig besser. Um ihn endgültig auszuschalten, war die Dosis zu gering. Sie brachten ihn fort und empfahlen ihm, sich hinzulegen. Ihm stünde viel bevor. Wie Andreas an diesem fremden Ort Ruhe finden sollte, hatte man ihm nicht verraten. Ein Bett, das er nicht kannte. Ein Fremder, mit dem er sich das Zimmer teilen musste und der permanent an seinen aufgesprungenen Händen herumfummelte.
In den finsteren Minuten der ersten Nacht schüttelte es Andreas vor Angst. In den hellen Augenblicken registrierte er langsam, dass er sich in der Psychiatrie befand. Er hatte sich selbst eingewiesen. Er war ganz unten angekommen. Und er war allein.
Die folgenden Tage sorgten dafür, dass Andreas sich selbst verfluchte. Was hatte ihn dazu getrieben, eine solch närrische Entscheidung zu fällen? Er gehörte nicht hierher. Nicht zwischen die Leute, die sich nach dem Essen den Finger in den Hals steckten oder Wahnvorstellungen hatten. Nicht zu Karl, seinem Zimmernachbarn, der nur mit Mühe davon abgehalten werden konnte, fünfzehn Mal am Tag zu duschen und sich hundert Mal die Hände mit Desinfektionsmittel zu waschen. Die Fülle eigenartigen Verhaltens war zu skurril, als dass Andreas das Gefühl gehabt hätte, er sei am richtigen Ort.
Die Panikattacken, die ihn zerrissen, sprachen eine andere Sprache. Medikamente waren nötig. Keines der Präparate konnte ihn gesund machen, aber sie sollten ihn stabilisieren. Dazu brauchte es Untersuchungen und Einschätzungen. Erschwerend kam hinzu, dass die verordneten Psychopharmaka nicht sofort wirkten, sondern erst nach zwei bis vier Wochen ihre volle Wirkung entfalteten.
Die Tage auf der Station waren grauenhaft. Gemeinsames Essen im Speisesaal? Konnte Andreas nicht. Geselliges Beisammensein im Wohnzimmer der Station? Lehnte er ab. Er wollte heim.
Mehr als einmal war Andreas kurz davor, sich zu entlassen. Der Stationsarzt rückte ihm mit klaren Worten den Kopf zurecht. Andreas müsse entscheiden, ob er endlich ein richtiges Leben führen wolle oder nicht. Er wäre viel zu lange fortgelaufen. Nein, seine Eltern hätten damit nichts zu tun. Er sei erwachsen. Es wäre an der Zeit, sich dem Problem zu stellen, weil jedes verstreichende Jahr den Ängsten neue Nahrung bot.
Also war er geblieben. Keineswegs, weil er dem Arzt, den er in diesem Augenblick von Herzen hasste, recht gab. Nein, Andreas blieb in der Klinik, weil es kein Leben gab, in das er zurückkehren konnte. Damals hatte er keinerlei Zweifel gehabt, dass seine Eltern sich von ihm abwenden würden, und sein Freund hatte ihn bereits verlassen.
Wenn die Tage im Krankenhaus schlimm waren, waren die Nächte ein nicht enden wollender Albtraum. Wie hatte er diese endlosen Stunden zwischen dem Abendessen und der Morgendämmerung nur überstanden? Nie war er einsamer gewesen. Nie hatte er sich schlechter gefühlt und verzweifelter einen Menschen an seiner Seite gebraucht. Er weinte, bis die Kopfschmerzen ihn umzubringen drohten und das Weiße seiner Augen von aufgeplatzten Adern durchzogen war. In der Dunkelheit hatte er mit Hilfe von Kissen und Decke die Illusion eines menschlichen Körpers gebaut, der ihn im Arm hielt. Er hatte wach an die Wand gelehnt gesessen, damit er nicht einschlief, weil das Erwachen in der Psychiatrie manchmal schlimmer war als die Träume, die ihn heimsuchten.
In jeder freien Minute dachte er an Sascha. Es gab zweifelsohne viel Schmerz in Andreas, Angst und Leid, doch der Verlust seines Freundes stand für ihn an oberster Stelle und zerstörte ihn von innen heraus. Andere Problemstellungen mochten wichtiger sein, aber für Andreas gab es in den ersten Tagen, Wochen, Monaten in der Klinik nur die Qualen, die das Ende seiner ersten Liebe ihm eingebracht hatte.
Die Beziehung zu Sascha war mehr gewesen als die Suche nach einem Gefährten. Sie war Balsam auf Andreas’ Wunden gewesen. Ein Hauch von Menschlichkeit in der Einöde seines Familienlebens. Sascha war sein bester und einziger Freund, sein Bruder, Lover, Ratgeber und Lebenselixier. Willig hatte er diesen Platz eingenommen, nur, um Andreas am Ende ins Gesicht zu sagen, dass all seine heimlichen Befürchtungen der Wahrheit entsprachen.
Andreas von Winterfeld enttäuschte nicht nur seine Eltern und seine Familie, sondern auch jeden anderen Menschen, der mit ihm zu tun hatte. Unzulänglich, nicht liebenswert, wertlos. Nicht seine Eltern,
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