Nach der Hölle links (German Edition)
einer Vielzahl Regale und Schränke. In dieser Hinsicht hatte Andreas sich nicht geändert. Wohnzimmer und Schlafzimmer glichen einer Bibliothek. Die sterbende Palme unter dem vorderen Fenster war ihm ein Dorn im Auge. Seine Mutter hatte sie ihm vor einem Jahr mitgebracht, damit er etwas Grünes in der Wohnung hatte. Dumm nur, dass dieses Grün regelmäßig gegossen werden wollte, nicht in der einen Woche ersäuft und in der nächsten vergessen.
Andreas fühlte sich fiebrig, als er sich in einer Höhle aus Decken und Kissen verkroch. Schüttelfrost überkam ihn. Sein verschwitzter Rücken traf auf zerwühltes Leinen. Halb glaubte er, es zischen zu hören, als ihm das Laken den Schweiß von der Haut nahm.
Seit Beginn der Behandlungen hatten sich gewisse Elemente seiner Krankheit verschoben. Es gab mehr Baustellen als die Phobie, die ihn früher ans Haus gefesselt hatte. Zum Beispiel reagierte er stark auf emotionalen Stress. Durch die harte Therapie lag seine Seele auf dem Seziertisch und war verletzlich. Kleinigkeiten schmerzten heftig. Größere Probleme führten ihn in Windeseile an und über den Rand seiner Leistungsfähigkeit.
Am schlimmsten war, dass Andreas nicht unterscheiden konnte, wann er überempfindlich reagierte und wann seine Gefühlsregungen normal und richtig waren. Jeder Mensch hatte Grenzen. Doch Andreas kannte seine nicht. Mit schönster Regelmäßigkeit schoss er über das Ziel hinaus und übernahm sich. Und wenn alles zu viel wurde, zog sein Körper die Reißleine in Form von Fieber, Migräne und Magenbeschwerden. Psychosomatische Reaktionen eines Systems, das Ruhe einforderte.
Eine Nebenwirkung, behauptete Köninger. Fehlende Balance und mangelndes Gefühl für sich selbst.
Nie wusste Andreas, wann es in Ordnung war, aufzugeben. Stress dominierte sein Leben. Das ließ sich nicht umgehen, wenn jede Bahnfahrt und jeder Einkauf Ängste nach sich zogen. Aber selbst wenn Andreas im Haus blieb, ratterte es in seinem Kopf. Die Zahnräder standen niemals still. Sogar während er schlief, ging die Saat auf und arbeitete in ihm. Es war ein Acker, der bis zum Horizont reichte.
Kurz gesagt: Andreas hatte keine Reserven, mit der Begegnung mit Sascha umzugehen, und er wusste es. Doch etwas mit dem Verstand zu erfassen und danach zu handeln, waren zwei verschiedene Dinge.
Als Andreas das Gesicht im Kissen vergrub, fürchtete er, den sterilen Duft der Krankenhaus-Bettwäsche zu riechen. Es war keine Erleichterung, nur den Geruch des eigenen Duschgels vorzufinden. Dafür reiste sein Geist zu schnell rückwärts. Zurück in eine Zeit, in der er die Tore seiner persönlichen Hölle durchschritten hatte.
Als sie die Psychiatrie erreicht hatten, war er kaum aus dem Wagen gekommen. Seine Knie waren eingeknickt. Er hatte keinen Blick für die gepflegten Grünanlagen oder die Backsteinmauern gehabt, die das Gelände umgaben. Er interessierte sich nicht für die Tatsache, dass weder eiserne Tore noch andere Sicherheitsmaßnahmen zu erkennen waren. Keine Drahtzäune, kein Krankenhauspersonal, das an Wachen erinnerte, keine armen Seelen, die vollgepumpt mit mysteriösen Medikamenten über die Gehwege wankten. Stattdessen freundliche Wegweiser zu den Gebäuden, in denen sich die stationären und ambulanten Einrichtungen befanden.
Einen Pförtner im Hautgebäude hatte es dann doch gegeben. Dr. Schnieder hatte mit ihm gesprochen, während Andreas an der Wand gegenüber kauerte und sich Mühe gab, nicht auf den frisch gewischten Linoleumfußboden zu spucken. Das Schild mit der Aufschrift »Rutschgefahr« drehte sich vor seinen Augen. Es verstrich furchtbar viel Zeit, bis sich jemand seiner annahm. Zwischendurch hatte es Diskussionen gegeben, ob und wo man ihn aufnehmen konnte. Bürokratie, die ihn fast in den Wahnsinn trieb. Er war ein Notfall, sah das niemand?
Schließlich hatte eine Ärztin ihn ins Sprechzimmer geleitet und ihm ohne große Vorrede eine Tablette in die Hand gedrückt.
»Auf der Zunge zergehen lassen. Jetzt.« Dann kamen die Fragen. »Alter. Problem. Hausarzt. Therapeut? Familiensituation. Angehörige. Zehn Jahre ohne Behandlung? Ach herrje. Akut. Sofortige Aufnahme. Offene Station für Erwachsene. Platz? Eigentlich nicht, aber …«
Andreas hatte ihr nicht zugehört. Er wollte durchaus, konnte aber nicht. Das Rauschen war zu laut in seinen Ohren gewesen. Außerdem war es schwer, sich zu konzentrieren, wenn man aufstehen und schreien wollte, dass es ihm dreckig ging und sie verdammt noch mal
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