Nach der Hölle links (German Edition)
Zweifel geben.
Ruckartig sprang Sascha auf. Die Blicke und Stimmen seiner Freunde folgten ihm irritiert, als er ohne Erklärung auf den Tresen zustrebte. Er dachte nicht über sein Handeln nach. Wie eine Modelleisenbahn folgte er einer vorgefertigten Spur, die er nicht verlassen konnte. Sascha kam nicht einmal auf den Gedanken, sich keine Gewissheit verschaffen zu wollen. Stattdessen zitterte er vor unterdrückter Anspannung, während das Pochen seines Herzschlags ihm das Trommelfell zu zerreißen drohte.
Der allein sitzende Mann ignorierte ihn, bis er auf einen Schritt an ihn herangetreten war. Noch bevor Andreas ihm das Gesicht zuwandte, wusste Sascha, dass er es war. Vielleicht waren es Pheromone, die er unbewusst wahrnahm oder doch die Haltung der feingliedrigen Finger um das Glas. Sascha wollte vor Erleichterung in die Knie gehen.
Der Drang, die Hand nach Andreas auszustrecken und ihn zu berühren, war überwältigend. Am liebsten hätte er ihn an sich gerissen. Man durfte so handeln, wenn man lange Jahre nicht sicher gewesen war, ob jemand tot war. Aber Sascha hielt sich mit einem letzten Quäntchen Selbstbeherrschung zurück und musterte Andreas, auf dessen Miene sich ebenfalls Erkennen widerspiegelte. Erkennen, aber keine Freude.
Saschas Mund war staubtrocken, als er wisperte: »Oh mein … Andreas … bist du das wirklich?«
Es war das Erste, was ihm einfiel. Natürlich wusste er längst, dass er dem Nachbarsjungen gegenüberstand, den er einst verlassen hatte. Andreas’ Züge waren ihm so vertraut, als hätten sie sich erst gestern zum letzten Mal gesehen und geküsst. Kleinigkeiten mochten sich verändert haben, aber Sascha sah nur den Menschen, in den er sich vor fast vier Jahren verliebt hatte. Den er nur selten außerhalb seines Zimmers zu Gesicht bekommen hatte und der nun vor ihm saß.
»Sieht so aus, würde ich sagen«, unterbrach Andreas nüchtern Saschas Überlegungen. Sein Gesicht erinnerte an einen geschliffenen Edelstein: herb, mit Kanten versehen und doch schön anzusehen. Kalt.
»Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll«, platzte Sascha heraus. »Das ist so lange her. Ich habe mich immer gefragt, was aus dir geworden ist und jetzt treffe ich dich …«
»… in freier Wildbahn?« Andreas’ Hand um das Bierglas verkrampfte sich sichtbar. Er machte ein Gesicht, als würde er sich von innen auf die Wangen beißen. Sascha konnte nichts in den leeren Augen lesen, was ihm mehr wehtat, als er sich eingestehen wollte. »Die Zeiten ändern sich eben.«
»Ja, offensichtlich«, erwiderte Sascha erschüttert, aufgeregt, überrascht, dankbar, hingerissen, verwirrt.
Er wollte Andreas tausend Fragen stellen. Wollte sich mit ihm unterhalten und die Zeit aufholen, die sie verloren hatten. In diesem Augenblick konnte Sascha an nichts anderes denken als daran, wie unfassbar – er fand kaum Worte – stolz und bewegt er war, Andreas in einer Kneipe vorzufinden. Zu sehen, dass er seinen Weg gemacht hatte und aus seinem Mauseloch herausgekommen war. Gleichzeitig musste er schlucken. Etwas in Sascha bedauerte, ihm nicht bei seinen Schritten in die Freiheit zugesehen zu haben. Verzweifelt wollte er die Hände in die nur noch halb langen Haare schieben und Andreas an sich heranziehen, ihn fest an seine Brust drücken und nicht loslassen, bis man sie am frühen Morgen aus der Kneipe warf.
»Wie dem auch sei«, sagte Andreas plötzlich. Seine Stimme bebte. Er griff in die Hosentasche und warf ohne hinzusehen einen 50-Euro-Schein neben sein Glas. Dann stand er auf und kam Sascha ganz nah. So nah, dass es ein Leichtes gewesen wäre, sich zu umarmen. Kurz glaubte Sascha, dass Andreas darauf hinauswollte. Unbewusst hob er bereits die Arme, als sein Ex-Freund ihm steif zunickte: »Mach’s gut, Sascha.«
Damit wandte Andreas sich ab und ging schnellen Schrittes zur Tür.
Sascha stand wie versteinert. Er hörte kaum die Stimme der Wirtin, die irritiert etwas über ein arg großzügiges Trinkgeld murmelte. Dafür spürte er die Blicke seiner Freunde umso deutlicher, die das Schauspiel beobachtet hatten. Nichts hätte Sascha gleichgültiger sein können. Er wusste nur, dass Andreas für eine Minute in sein Leben gestolpert war und nun wieder verschwinden wollte.
Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. Sascha würde es nicht ertragen, ihn gehen zu sehen. Dabei hatte er doch bekommen, wonach er sich gesehnt hatte: Gewissheit, dass es Andreas gut ging; sogar tausend Mal besser, als er je zu hoffen wagte.
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