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Nach dir die Sintflut

Nach dir die Sintflut

Titel: Nach dir die Sintflut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Kaufman
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Schwester zu sein.
    »Siehst du!«
    »Danke, Stewart.«
    »Du schaffst das schon.«
    »Außerdem habe ich meine Schlüssel verloren.«
    »Vergiss das jetzt. Du hast Ersatzschlüssel.«
    »Ich habe sogar Ersatzschlüssel von den Ersatzschlüsseln.«
    »Du schaffst das schon.«
    »Danke, Stewart.«
    »Ist schon okay. Rufst du später noch mal an?«
    »Ja.«

    »Okay«, sagte Stewart, und dann legte Rebecca einfach auf, weil sie nicht wollte, dass er fühlte, wie sehr sie ihn vermisste.
    Auf dem Weg nach oben begegnete Rebecca einem ihrer kahlen Onkel.
    »Wo hast du gesteckt?«
    »Ich habe mich verlaufen.«
    »Wir warten auf dich.«
    »Lass uns reingehen«, sagte sie.
    Rebecca ging zur ersten Bank und setzte sich zwischen ihre Eltern. Sie klappte das Gesangbuch auf. Sie schaute zu Boden und entdeckte eine Ameise, die über das abgewetzte Parkett kroch. Rebecca beobachtete ihr Fortkommen und vergaß die Zeit, bis sie jemand in die Rippen stieß. Sie drehte den Kopf nach rechts und sah ihre Mutter traurig lächeln.
    »Du bist dran.«
    »Oh«, sagte Rebecca. Sie hob den Kopf. Reverend Stevenson stand in der Kanzel und beobachtete sie über die Ränder seiner Brille hinweg. Die Gläser vergrößerten seine Augenbrauen auf unheimliche Art. Rebecca stand auf. Das Gesangbuch fiel zu Boden. Das Geräusch hallte durch die Kirche. Rebecca bückte sich, um das Buch aufzuheben, aber es rutschte ihr aus den Fingern und fiel ein zweites Mal herunter.
    »Geh einfach«, flüsterte ihre Mutter.
    Rebecca ließ das Buch liegen und zwängte sich an eingezogenen Knien vorbei aus der Kirchenbank. Sie ging auf den Sarg zu. Sie schaute hinein. So blieb sie stehen, mit gesenktem Kopf, bis der Prediger sich räusperte. Erschreckt drehte Rebecca sich um und trat hinter die Kanzel. Sie verschränkte ihre Hände hinter dem Rücken. Sie ließ ihre Hände seitlich neben dem Körper hängen. Sie holte tief Luft, aber als sie den Mund aufmachen wollte, merkte Rebecca, dass all ihre mit der Derrick-Miller-Erinnerung verknüpften Gefühle verflogen waren. Sie
erinnerte alles - Rebecca konnte die Mädchen in den engen Jeans sehen, die langen schwarzen Haare von Derrick Miller und die Wodkaflasche auf dem Küchenboden. Aber sämtliche Gefühle hatten sich verflüchtigt. Die Dankbarkeit, die Liebe, die Hochachtung, die sie noch vor zwanzig Minuten gefühlt hatte, waren weg.
    In der Kirche war es still. Rebecca starrte auf ihre Hände. Sie suchte nach einer anderen Erinnerung. Ihr fielen einige ein: Lisa, wie sie sich weigert, ihr neues Zimmer zu beziehen; Lisa, wie sie Ärger im Ferienlager bekommt; Lisa, die mit vierzehn Auto fährt. Aber auch an diesen Erinnerungen hingen keine Gefühle mehr. Die Abwesenheit der Gefühle veranlasste Rebecca, wild durcheinander zu fühlen: Überraschung, Besorgnis, echte Angst. Am allerstärksten jedoch war ihre Scham. Lisa war erst seit zwei Tagen tot, und schon hatte Rebeccas Liebe nachgelassen.
    Diese Scham strahlte Rebecca aus. Sie überkam jeden, der in der Kirche saß. Die Frauen fühlten Rebeccas Scham und fragten sich, was die Ursache sein könnte. Die Männer hoben den Kopf, ihre zuckenden Lider verrieten Ärger. Es war totenstill. Niemand rührte sich. Weder ihr Vater noch ihre Mutter hoben den Blick vom Boden, als Rebecca die Kanzel verließ. Mit gesenktem Kopf rannte sie durch den Mittelgang und durch die große, schwere Holztür, die hinter ihr zufiel.

2
    Winnipeg - One Great City: Lewis (erster Teil)

Fünf
    Der erste Haarschnitt seines restlichen Lebens
    Sechsundzwanzig Stunden nach der Beerdigung seiner Frau spähte Lewis Taylor durch den Türspion seiner Suite im zweitbesten Hotel von Winnipeg, Manitoba.
    Er blinzelte, hielt das rechte Auge noch einmal an den Spion und entdeckte einen Mann in einem weißen, frisch gestärkten Kittel, der vor der Tür im Flur stand. Aus seiner Brusttasche ragten ein schwarzer Kamm und eine lange, schmale Schere. Lewis beobachtete. Er bewegte sich nicht.
    »Sind Sie der Friseur?«, rief er schließlich.
    »Ja, der bin ich«, antwortete der Mann. Sein Akzent klang osteuropäisch, genauer konnte Lewis ihn nicht einordnen.
    »Wie kann ich sicher sein?«
    »Hören Sie, ich komme später wieder. Soll ich einen Kollegen vorbeischicken? Das wäre kein Problem.«
    »Nein, nein, Sie sind der Richtige. Tut mir leid.« Lewis löste die Kette und öffnete die Tür.
    Der Friseur trat ein. Die zwei Männer drängten sich in dem engen Vorraum. Hinter ihnen ersteckten sich ein geräumiges

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