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Nach dir die Sintflut

Nach dir die Sintflut

Titel: Nach dir die Sintflut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Kaufman
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Wohnzimmer und ein Flur, der zum Schlafzimmer und zum Bad führte. Ein paar Momente verstrichen.
    »Wo soll ich Ihnen die Haare schneiden?«
    »Wo passt es Ihnen am besten?«
    »Wäre das Bad in Ordnung?«
    »Ja, sicher«, sagte Lewis.

    Auf dem Weg ins Badezimmer betrachtete Lewis die Abdrücke, die die eleganten Herrenschuhe des Friseurs auf dem dicken Teppich hinterließen. Nie zuvor hatte Lewis einen dermaßen gründlich gesaugten Teppich gesehen. Er stellte sich eine Flotte winziger Schneeraupen vor, die sich in der Abstellkammer versteckte und nachts zum Arbeiten herauskam, als sei der Teppich eine Piste. Als er wieder die Augen öffnete, war der Friseur gerade dabei, einen Stuhl ins Badezimmer zu tragen. Lewis ging hinterher.
    Der Friseur stellte den Stuhl rechts vom Waschtisch vor dem Ganzkörperspiegel auf die Kacheln und bedeutete Lewis mit einer Geste, Platz zu nehmen. Lewis setzte sich hin. Er schloss die Augen und spürte die kräftigen Hände des Friseurs durch sein Haar fahren, hierhin, dorthin. Der Friseur sah, dass Lewis’ Haare am Ansatz braun und kürzlich erst geschnitten worden waren, es konnte nicht länger als zwei oder drei Tage her sein.
    »Einen sehr schicken Haarschnitt haben Sie. Sehr modern.«
    »Danke.«
    »Sind Sie sicher, dass ich schneiden soll?«
    »Absolut.«
    »Etwas konservativer?«
    »Ja, genau. Etwas konservativer.«
    »Als Kontrast zu Ihrem Anzug?«
    Lewis warf einen Blick in den Ganzkörperspiegel, ohne sich ins Gesicht zu sehen. Sein Anzug war der letzte Schrei. Ebenso seine Schuhe und die Krawatte. Während er sein Spiegelbild vom Hals abwärts studierte, beschlich ihn die Befürchtung, irgendjemand könnte seine Kleider irgendwann als Halloweenkostüm tragen.
    »Ja«, sagte Lewis. »Genau. Das ist es. Als Kontrast zu meinem Anzug.«

    Lewis spürte ein Handtuch auf seinen Schultern. Er hörte die Schere über seinem Kopf schnappen. Während der Friseur arbeitete, hielt Lewis absolut still.

    Seit er im östlichen Toronto auf einer Kreuzung gestanden und eine grünhäutige Frau am Steuer eines weißen Honda Civic gesehen hatte, war viel in Lewis’ Leben passiert. Zunächst einmal hatte er sich rückwärts von der Limousine entfernt, die ihn auf die Kreuzung gebracht hatte. Anschließend war er in ein Taxi gestiegen.
    »Hallo«, sagte der Fahrer.
    »Ja?«
    »Wohin?«
    »Keine Ahnung.«
    Das Taxi bewegte sich nicht. Lewis nahm zwei Zwanzigdollarscheine aus seiner Brieftasche, beugte sich vor und warf sie auf den Beifahrersitz.
    »Geradeaus«, sagte er. »Fahren Sie einfach los.«
    Der Taxifahrer fuhr in westlicher Richtung auf der Queen Street weiter, während Lewis auf dem Rücksitz hing und sich fragte, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Die Antwort wurde ihm schnell klar: Nein. Richtig wäre gewesen, zur Beerdigung seiner Ehefrau zu erscheinen und hemmungslos zu schluchzen. Er wusste, er sollte starr vor Gram sein. Er sollte toben und sich gegen den kalten, unbarmherzigen Gott auflehnen. Aber Lewis war zu nichts dergleichen fähig. Er drehte sich zur Seite, um aus dem Fenster zu schauen.
    Das Taxi passierte Gebäude, die Lewis bekannt vorkamen, dennoch hatte er das Gefühl, durch eine fremde Stadt zu fahren. Er ließ das Seitenfenster herunter und steckte den Kopf in den Fahrtwind wie ein Hund. Er sah den verschwommenen Asphalt unter sich. Er drehte den Kopf und schaute gen Himmel, wo
ein Flugzeug einen langen weißen Kondensstreifen hinterlassen hatte; er sah aus wie eine säuberlich zusammengeschobene Linie Kokain, die auf einen druckfrischen, zusammengerollten Geldschein wartet.
    »Stopp«, sagte er. Er zog den Kopf ins Taxi zurück. »Zum Flughafen, bitte. Fahren Sie mich nach Pearson.«
    Da sie bereits gen Westen fuhren, brauchte der Fahrer seinen Kurs nicht zu ändern. Zwei Stunden später saß Lewis im ausgewiesenen Wartebereich des Flugsteigs Nummer dreiundzwanzig in Terminal eins. In seiner Tasche steckte ein Hinflugticket nach Halifax. Die rechteckige Digitaluhr unter der Hallendecke gab die Uhrzeit mit 17:43 Uhr an. Lewis überlegte, dass die Beerdigung seiner Frau inzwischen vorbei sein müsste. Er stellte den Alarm seiner Armbanduhr so ein, dass er dreiundvierzig Minuten nach der vollen Stunde losgehen würde, und zwar stündlich. Dann zeigte er der übertrieben freundlichen Fluglinienangestellten seine Bordkarte und bestieg den Flug AC 719.
    Drei Stunden und sechsundvierzig Minuten später stieg Lewis an der kanadischen Ostküste aus dem

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