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Nach dir die Sintflut

Nach dir die Sintflut

Titel: Nach dir die Sintflut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Kaufman
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vereinbaren.«
    »Können Sie ihn raufschicken?«
    »Jetzt?«
    »Ja.«
    »Jetzt sofort?«
    »Na ja, so bald wie möglich.«
    »Er kommt erst in ein paar Stunden.«
    »Na schön.«
    »Haben Sie noch einen Wunsch?«
    »Ich melde mich, wenn etwas ist«, sagte Lewis und schloss die Tür der Kronprinzensuite. Er ging ins Badezimmer. Er ließ die Wanne volllaufen, ohne ins Wasser zu steigen. Er stöpselte den Abfluss des Waschbeckens zu und ließ auch das volllaufen. Er setzte sich auf den Badewannenrand und ließ den Blick zwischen Wanne und Becken hin und her wandern. Neunzig Minuten später hörte er ein Klopfen an der Tür. Die Miniatur seiner Frau war ihm nicht erschienen.

    Lewis öffnete die Augen erst wieder, als der Friseur das Handtuch von seinen Schultern gezogen hatte. Winzige Haarschnipsel schwebten in der Luft. Lewis konzentrierte sich darauf, um sich bewusst von seinem Spiegelbild abzulenken. Als der Friseur fertig mit Fegen war, zog Lewis den Umschlag aus der Sakkotasche und nahm zwei Scheine heraus. Er hielt sie dem Friseur entgegen.
    »Das ist zu viel.«
    »Nein. Sie haben mir wirklich einen großen Gefallen getan«, sagte Lewis. Er sah dem Friseur in die Augen. Für Lewis war es
das erste Mal. Zum ersten Mal, seitdem er von der Limousine weggelaufen war, hatte er es gewagt, einem anderen Menschen in die Augen zu schauen. Der Friseur nickte und nahm das Geld. Lewis begleitete ihn zum Ausgang der Kronprinzensuite und hielt ihm die Tür auf. Als der Friseur gegangen war, verriegelte Lewis die Tür und sicherte sie zusätzlich mit der Kette. Dann ging er zurück ins Badezimmer. Er stellte sich vor den Ganzkörperspiegel und holte tief Luft. Er schaute in den Spiegel und entdeckte einen vertrauenswürdigen Mann. Einen lässigen Mann. Einen Mann, der niemals die Beerdigung seiner Frau geschwänzt hätte.

Sechs
    Lewis begegnet Gott
    Lewis riss das dünne Plastikbändchen mit den Zähnen ab. Er warf das Preisschild in den Mülleimer neben dem Ganzkörperspiegel und stieg in die neuerworbene Jeans, die noch ganz steif war und sich nur mühsam zuknöpfen ließ. Mit dem Daumen drückte er eine Zahnbürste aus der Verpackung. Mit nacktem Oberkörper putzte er sich die Zähne, und plötzlich fühlte er sich geborgen, sicher und angekommen - alles nur wegen einer Zahnbürste.
    Eine Stunde nach dem neuen Haarschnitt hatte Lewis seine Suite verlassen und sich im Hudson’s Bay Company Store völlig neu eingekleidet. Die neuen Kleidungsstücke waren konservativ und ganz anders als das, was er normalerweise trug. Er hatte sich außerdem einen Rasierer, Deo, eine Zahnbürste und Zahnpasta gekauft. Viel Zeit war vergangen, seit er sich zum letzten Mal selbst eine Zahnbürste gekauft hatte, Lisa hatte diese Aufgabe für ihn übernommen. Unbewusst hatte er sich für eine mit weichen Borsten entschieden. Lisa hatte immer die mit den harten Borsten gekauft, deswegen fühlte sich die neue Zahnbürste in seinem Mund gebraucht und vertraut an.
    Vorsichtig legte Lewis die Zahnbürste auf den Waschbeckenrand. Er spuckte aus. Er verließ das Badezimmer und stellte sich vor den Nachttisch, auf dem ein Telefon stand. Er nahm den Hörer ab, drückte eine Taste und war augenblicklich mit der Rezeption verbunden.

    »Ich brauche einen Müllsack«, sagte er. »Den stabilsten, den Sie haben.«
    »Gern.«
    »Und die Wegbeschreibung zum nächsten Waschsalon.«
    »Möchten Sie unseren Wäschereiservice in Anspruch nehmen?«
    »Nein, danke.«
    »Dann schicken wir Ihnen die Wegbeschreibung mit dem Müllsack rauf.«
    »Danke«, sagte Lewis.
    Eine Viertelstunde später traf der Müllsack ein, zusammen mit einem Stadtplan, auf den jemand mit rosafarbigem Textmarker den Fußweg vom Fort Garry Hotel zum Happy-Cat-Waschcenter eingezeichnet hatte. Im Bad riss Lewis die Klarsichthülle von den neuen Oberhemden. Er zog alle Nadeln heraus und legte sie rechts vom Waschbecken auf dem Granit zu einem Häuflein zusammen. Die Pappen ließ er zu Boden fallen. Die Preisschilder der übrigen sechs Hosen, die er gekauft hatte, riss er mit den Fingern ab. Er trennte die Sockenpaare und zupfte die Etiketten ab. Nachdem er mit der Unterwäsche ebenso verfahren war, stopfte Lewis alle Kleider in den schwarzen Müllsack, den er sich über die Schulter schwang.
    In der Lobby tat Lewis so, als bemerke er die Blicke des Rezeptionisten nicht. Er ging durch die Drehtür, wo er mit dem Müllsack fast hängen blieb. Weil er noch nie in Winnipeg gewesen war, hielt Lewis sich

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