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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Nachtportier weiß ich, dass der Besitzer seine Kindheit in diesem Hotel verbracht hat, als seine Eltern es führten und die Zimmer noch edler und die Gäste respektabler waren. Der Mann sei schwerreich und behalte das Hotel aus sentimentalen Gründen, so wie andere Leute ein altes Puppenhaus auf dem Dachboden aufbewahren und langsam vergammeln lassen.
     
    Am Abend sitze ich in meinem Zimmer und lese die Zeitungen, die ich in der Lobby aufgesammelt habe. Dabei fasse ich die Seiten nur an deroberen Ecke an, weil die alten Männer beim Umblättern ihre Finger mit Spucke befeuchten. Im Laden der Heilsarmee habe ich eine Hose und einen Mantel gekauft. Beides trage ich jetzt, weil es kühl ist im Zimmer. Meine Haare sind noch feucht vom Duschen, und ich nehme mir vor, Winston morgen zu fragen, ob sich in all dem Ramsch, den er verkauft, vielleicht auch ein gebrauchter Föhn verbirgt.
    Im Zimmer neben mir hustet Dobbs, ein ehemaliger Militärpilot, der vor dreißig Jahren bei einem Übungsflug mit seinem Hubschrauber samt Copiloten und zwei Bordschützen in eine Kürbisplantage in Alabama gestürzt ist und seither von einer mickrigen Rente lebt. Mindestens einmal am Tag klopft er an meine Tür, dann lasse ich ihn herein oder gehe zu ihm rüber und höre mir eine seiner Geschichten an. Dobbs hat ein steifes Bein, nur noch einen halben rechten Daumen, und mit seinem Kopf ist vermutlich auch nicht mehr alles zum Besten bestellt. Doch er ist freundlich und redselig und in einer tiefen Traurigkeit gefangen, die er lächelnd erträgt.
    Gestern habe ich ihm eine Tafel Schokolade mitgebracht, um ihn aufzuheitern. Er hat sich so gefreut, dass er schwor, die Schokolade nicht anzurühren, sondern sie auf der Kommode neben seine gerahmten Fotos zu stellen, aber ich habe ihn gedrängt, davon zu essen. Dann haben wir zusammen die ganze Tafel verdrückt, und er hat das Papier auf dem Tisch glattgestrichen und mit Reißzwecken an die Wand geheftet. Während wir die billige Schokolade aßen, hat Dobbs mir noch einmal erzählt, wie die reifen Kürbisse gegen das Cockpitfenster prasselten und schwarze Landarbeiter aus einer Hütte rannten, als der Hubschrauber zur Seite kippte und die Heckrotoren die Erde aufwarfen. Er hat die plötzliche Stille beschrieben und das Blau des Himmels hinter dem verdreckten Glas, aber nicht das Blut, nicht den Körper des toten Bordschützen, nicht sein Gesicht. An der Stelle, an der Dobbs sich aus dem Sicherheitsgurt löst, klinkt er sich auch aus der Geschichte. Dann sitzt er da und sieht an mir vorbei, und in seinem abgedunkelten Schädel flackern die Bilder, die er nicht in Worte fassen kann.
    Nach einer Weile geht ein Schlag durch ihn hindurch, sein Kopf wackelt auf dem dünnen Hals, der Blick sucht die eigenen Hände. Er erhebt sich und verfällt in Geschäftigkeit, kocht Tee oder faltet ein Handtuchzusammen, lächelnd, als sei ihm seine Seelenqual peinlich. Dabei redet er atemlos von Spaziergängen im Park, von Büchern und Tauben. Den Tauben, die er füttert und die ich Randolphs Anweisungen zufolge vergiften soll.
     
    Ich lege mich auf das Bett und breite den Mantel über mir aus. Meine Haare sind trocken. Ich hätte gerne meinen Koffer bei mir, meine paar Dinge, die ich schon so lange mit mir herumgeschleppt habe. Die Aufnahme von Orla in Sligo, die beiden Fotos meiner Mutter, den reitenden Indianer, Colms Nashorn, die Briefe. Ich frage mich, was Vermeer damit macht. Ohne meinen Pass bin ich aufgeschmissen. Ich kann weder den Scheck einlösen noch das Land verlassen. Im National Geographic habe ich einen Artikel über einen Ort in Mexiko gelesen, in dessen Bucht Wale ihre Jungen zur Welt bringen. Touristen fahren da hin, um sich die Tiere anzusehen. Dort würde ich bestimmt einen Job finden. Das Leben wäre billig, ich könnte eine Weile bleiben und warten, bis etwas passiert, das mich vertreibt. Dann würde ich noch tiefer in den Süden fahren. Guatemala. Honduras. Ich könnte hinunter bis nach Chile, bis es nicht mehr weitergeht. Aber ohne Pass kann ich nicht weg.
    Ich habe mir schon überlegt, in die Stadt der Selbstmörder zurückzugehen, um meine Sachen abzuholen, aber dann denke ich an Vermeer, den ich im Stich gelassen habe, und vergesse es. Die Vorstellung, vielleicht Aimee zu begegnen, ist ein weiterer Grund, nicht zu gehen, ganz zu schweigen von Elroy und den anderen Nervensägen. Nachts vermisse ich manchmal Melvins Gemurmel, aber am Morgen bin ich immer froh, mir das Gequatsche im

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