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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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trete zur Seite, und sie kommt zu mir ins Zimmer. Ihr Haar streift mich beinahe. Erst jetzt sehe ich, dass sie in der Hand meinen Koffer trägt.

Die Hard With A Vengeance
1995
    Aus den Zimmern des Hotels drang Beethoven, Ravel und Satie, aus einigen Pink Floyd und Charlie Parker, und in einem war es still. Wilbur lag auf dem Bett und studierte die Karte, die er am Nachmittag gekauft hatte. Seit drei Tagen war er jetzt zusammen mit vierundachtzig jungen Musikern in Göteborg, und es erschien ihm wie eine Ewigkeit. Er hatte vor einer Jury Cello gespielt, an Ausflügen und einer Fernsehsendung teilgenommen, hatte für Gruppenfotos posiert und mit Menschen geredet, die ihm eine wundervolle Zukunft voraussagten. Ständig hatten Leute der Stiftung an seine Zimmertür geklopft und ihn zu Empfängen in Botschaften und Besichtigungen von Sehenswürdigkeiten geschleppt, und mehrmals täglich rief entweder Matthew oder Pauline an, um sich alles erzählen zu lassen.
    Heute hatte Wilbur endlich Gelegenheit gehabt, sich frei zu bewegen. Nach dem Mittagessen hatte er sich aus dem Hotel geschlichen, eine Reisetasche und einen Schlafsack gekauft und war am Bahnhof gewesen, um die Abfahrtszeiten von Zügen zu notieren. Der Ort, aus dem sein Vater die Briefe geschrieben hatte, hieß Nora und lag etwa zweihundertfünfzig Kilometer nordöstlich von Göteborg. Die Angestellte auf dem Postamt, der Wilbur die Briefumschläge zeigte, behauptete, es gäbe mindestens fünf Orte mit diesem Namen in Schweden, aber dank des Stempels konnte sie ihm den richtigen nennen.
    Wilbur nahm das Geld, das Matthew ihm mitgegeben hatte, hervor und zählte es ein weiteres Mal. Wenn er es vernünftig einteilte, würde esfür zwei Wochen reichen. Er fuhr mit dem Finger die Strecke ab, dann faltete er die Karte zusammen, erhob sich und betrachtete Matthews Schalenkoffer. Zwischen weißen Hemden, schwarzen Socken und dezent farbigen Krawatten lagen Notenhefte und Schokoriegel und ein dünnes, in schlechter Qualität gedrucktes Buch über Bruce Willis. Ari hatte ihm das Buch geschenkt, zusammen mit einer signierten Fotografie von Jane Russell, die als Lesezeichen zwischen den Seiten steckte. Wilbur verstaute die Karte und das Buch in der Reisetasche und sah auf die Uhr. In einer Stunde war das Abendessen mit den Veranstaltern und Sponsoren. Der Bürgermeister von Göteborg würde eine Rede halten, und nach dem Dessert käme der große Augenblick, wo der Präsident der Moorhead-Stiftung die diesjährigen Gewinner der Young European Musicians Awards bekanntgab.
    Matthew rief an und wünschte ihm zum tausendsten Mal viel Glück. Pauline erinnerte ihn daran, eine Postkarte zu schicken. Beide schrieben die Tatsache, dass Wilbur kaum etwas sagte, seiner Nervosität angesichts der bevorstehenden Preisverleihung zu. Die Vorhänge waren geschlossen, und der Fernseher, der ohne Ton lief, war die einzige Lichtquelle im Zimmer. Wilbur öffnete noch einmal die Segeltuchtasche und verstaute zwei Flaschen Wasser und einen Beutel Erdnüsse aus der Minibar darin. Schließlich zog er den dunklen Anzug an und ging hinunter in die Lobby, um mit den anderen auf die Wagen zu warten, die sie in die Festhalle brachten.
     
    Der Zug fuhr an einem See entlang, in dessen Wasser sich Wolken spiegelten. Ein einsames Segelboot verlor sich im Blau, zwischen Bäumen leuchteten farbige Zelte. Wilbur bemühte sich, diese Dinge zu sehen, um nicht an die Folgen seiner Reise zu denken. Bestimmt suchte man nach ihm. Er hatte das Hotel am Morgen früh durch einen Hinterausgang verlassen, war zu Fuß zum Bahnhof gegangen und hatte den Regionalexpress nach Örebro bestiegen. Zwischen unausgeschlafenen Pendlern sitzend, hielt Wilbur den Rucksack umklammert und stellte sich vor, wie sein Hotelzimmer nach Hinweisen auf sein Verschwinden untersucht wurde. Er sah Vertreter der Stiftung in Matthews Koffer wühlen, während der Hoteldirektor telefonierte und dabei ratlos das Cello betrachtete.
    Bald würde man Pauline anrufen und die Polizei verständigen. Eines der vielen Fotos, die ihn geduldig lächelnd im dunklen Anzug zeigten, würde vervielfältigt und an Passanten auf der Straße verteilt. Die Leute würden einen kurzen Blick auf sein Gesicht werfen, seine Augen, die um Haaresbreite an ihnen vorbeisahen, und dann den Kopf schütteln. Vermutlich würde Pauline Matthew anrufen. Bei diesem Gedanken zog sich Wilburs leerer Bauch zusammen, und er musste sich zwingen, beim nächsten Halt nicht auszusteigen

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