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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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und den nächsten Zug zurück nach Göteborg zu nehmen.
    Einige Reisende lasen Zeitung, und obwohl Wilbur wusste, dass es Unsinn war, fürchtete er, auf jeder Seite sein Bild zu entdecken, wie er auch in jedem Bahnhof Polizisten erwartete, die nach ihm suchten. Schloss er die Augen, geriet seine von Angst und Schuld genährte Phantasie völlig außer Kontrolle, und er sah Hubschrauber und Bluthunde, Straßensperren und endlose Ketten von Uniformierten, die Waldstücke durchkämmten. Er sah Pauline und Henry in einem Flugzeug nach Schweden sitzen und, im dunklen Wohnzimmer, Matthew, der vor Sorge krank wurde und vergaß, die Katze zu füttern. Dann öffnete er die Augen, und bunte Häuser und Scheunen, Kühe und Autos stürzten an ihm vorbei in eine Vergangenheit, in die er nicht mehr zurückkehren konnte, um ungeschehen zu machen, was er getan hatte.
     
    In Örebro kaufte Wilbur sich eine Sonnenbrille und eine Baseballkappe ohne Aufdruck. Um noch weniger nach dem Jungen auszusehen, dessen Bild vielleicht schon bald in Postämtern und Bahnhofshallen hing, schnitt er sich mit einer billigen Schere auf dem Klo eines Schnellrestaurants die Haare. Mitten in dieser Prozedur fing er an zu weinen und wünschte sich nichts sehnlicher, als mit Colm am Goldfischteich zu sitzen. Es dauerte eine Weile, bis er sich beruhigt hatte, dann wusch er sich das Gesicht und ging zurück auf die Straße, wo er in den Menschenströmen durch die Stadt trieb. Weil er dachte, sich stärken zu müssen, aß er einen der mitgebrachten Schokoriegel und trank eine Flasche Wasser, aber danach fühlte er sich nur noch elender.
    Aus Angst, wieder weinen zu müssen, legte er sich im Folkets Park auf die Wiese und zog die Kappe ins Gesicht. Um ihn herum redeten Außerirdische,die Luft und das Gras rochen anders als in Irland, und sogar die Käfer und Mücken hatten etwas Bedrohliches. Vor dem Weihnachtskonzert hatte Matthew ihm beigebracht, wie man atmete, um das flaue Gefühl im Magen loszuwerden, und jetzt lag Wilbur auf dem Rücken und versuchte sich daran zu erinnern. So verging eine Stunde und mehr.
     
    Irgendwann schob er die Mütze aus den Augen und sah in den Himmel, wo absurd große Wolkengebilde vorüberglitten, langsam, ohne ihre Form zu verändern. Unter einem Baum pickte eine Amsel im Gras, und ihr vertrauter Anblick hatte etwas Beruhigendes. Wilbur holte das Buch, das Ari ihm geschenkt hatte, aus der Reisetasche und las darin. Es trug den Titel Bruce Willis Goes To The Bad und war die unautorisierte Biografie aus der Feder eines Filmstudenten der Penn State University namens Lester J. Ormond. Auf den ersten hundertzwanzig Seiten des auf billigem Papier gedruckten Buches beschrieb der Autor, ein Freund gedrechselter Formulierungen, den Werdegang des Schauspielers, ohne es dabei mit Fakten oder der Wahrheit besonders genau zu nehmen. So diagnostizierte er bei Willis eine Phase sexueller Verwirrung, ausgelöst durch ein homoerotisches Erlebnis in der Pubertät, und beschrieb einen nirgendwo sonst dokumentierten Badeunfall, bei dem der damals Einundzwanzigjährige beinahe ertrank und eine Schädigung des Gehirns infolge Sauerstoffmangels erlitt. Diese Spätfolgen machte der Autor dafür verantwortlich, dass aus dem netten und zurückhaltenden Jungschauspieler der unberechenbare und in einem Panzer aus Selbstüberschätzung auftretende Macho wurde, der die Rolle des Privatdetektivs David Addison in der Fernsehserie Moonlighting erhielt, weil er in zerfetzten Kleidern und mit Irokesenschnitt zum Casting erschienen war und dreitausend Mitbewerber wie blutleere Schwächlinge hatte aussehen lassen.
    Eine Anwaltskanzlei, die mit nichts anderem Geld verdient, als ihre prominente Klientel vor rufschädigenden Elementen wie Ormond zu schützen, erreichte eine einstweilige Verfügung gegen das in einer Auflage von fünfhundert Stück erschienene Buch und schließlich dessen Einstampfung. Bevor das Urteil rechtskräftig war, hatte Ari drei Exemplare erworben und seiner umfangreichen Sammlung einverleibt, zu deren größten Kostbarkeiten ein von Jodie Foster während der Dreharbeitenzu Taxi Driver mit Colaflecken geweihtes Drehbuch, eine zerknitterte A4-Seite mit handschriftlichen Notizen von Stanley Kubrick zu 2001 – A Space Odyssey und ein silbernes Feuerzeug von Orson Welles gehörten.
    Die nächsten zweihundert Seiten widmete Lester J. Ormond den Filmen von Bruce Willis, und da er offensichtlich mit Spekulationen und Verleumdungen weniger Probleme

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