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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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einen Ausflug nach Liberty Island. Weder Lennard noch Maureen hatten die Freiheitsstatue zuvor gesehen, und Sofia füllte einen ganzen Film auf ihrer betagten Kamera. Nach dem Mittagessen waren Salvador und Sofia so müde, dass sie sich in einem Taxi zum Hotel bringen ließen. Lennard und Maureen nahmen die U-Bahn hinaus nach Coney Island, wo sie auf dem Riesenrad fuhren und am Strand spazierengingen. Auf einem Steg, der in die sanfte Brandung des Atlantik ragte, holte Maureen eine Streichholzschachtel voll Dimes und Quarters aus ihrer Handtasche, Münzen, die sie beim Wischen am Boden des Restaurants gefunden und zu Glücksbringern erklärt hatte. Dann nahm sie Lennards Hand, schloss die Augen und ließ die Geldstücke ins Wasser fallen.
     
    »Sie hat die ganze Handvoll Münzen ins Wasser geworfen, und beide haben zugesehen, wie sie versanken«, sagte Sune. Von dem Essen, das er gekocht hatte, hatte Wilbur nicht viel gegessen. Der Topf mit den Nudeln stand in der Mitte des Tisches, und auf seiner Außenwand krümmte sich die Küche zu einem verzerrten, postkartengroßen Bild, in dessen Mitte Wilbur sein Gesicht als hellen Fleck erkannte.
    »Und dabei hat sie sich dich gewünscht«, sagte Ulrika und strich Wilbur über den Kopf. Sie war rechtzeitig zum Essen zurückgekommen, mit Wein- und Sprudelflaschen und einer Schokoladentorte, von der Wilbur, überfüttert mit Geschichten, keinen Bissen hinunterbrachte.
    »Ihr Wunsch ging in Erfüllung«, sagte Sune. Er lächelte, aber dann senkte er betreten den Blick, und sein Gesicht wurde ernst.
    Ulrika sah Wilbur traurig an und legte ihre Hand auf seine.
    Nachdem Sune den Abwasch gemacht hatte, rief er Pauline und Henry an. Wilbur hatte ihm die Telefonnummer nur widerwillig genannt, aber Sune und Ulrika hatten darauf bestanden. Pauline weinte, und als sie sich gefasst hatte, wollte sie mit Wilbur sprechen, aber Sune sagte ihr, der Junge schlafe schon. Auch ihren Vorschlag, Henry nach Schweden zu schicken, um den Jungen abzuholen, wehrte Sune diplomatisch ab, indem er versprach, Wilburs Rückflug zu organisieren. Sune bat sogar darum, Wilbur noch einen Tag hierzubehalten. Er wollte ihm den Ort zeigen und ihn seinen Großeltern vorstellen, und nach einigem Hin und Her gab Pauline nach und erlaubte es.
     
    Im Wohnzimmer war das Sofa als Bett hergerichtet worden, in dem Wilbur schlafen sollte. An den Wänden des kleinen Raumes hingen Ulrikas Bilder mit Landschaften, Dorfszenen, Tieren, alle im Stil der naiven Malerei. Die Balken des Dachstocks knackten, in einem der Hinterhöfe bellte ein Hund. Wilbur lag da und sah an die Decke, an der Mondlicht haftete. Er konnte nicht schlafen, zu viele Gedanken drehten sich in seinem Kopf. Er streckte die Hand aus und nahm die Fotografie vom Tisch, die Sune ihm gegeben hatte. Sie zeigte Lennard Sandberg vor einem Hauseingang stehend. Er trug eine weite helle Hose und ein dunkelblaues Hemd, und er hielt den Kopf leicht abgewandt. Hinter ihm fing sich Sonnenlicht im Rot einer Tür, auf die mit weißer Farbe die Zahl 73 gemalt war. Ein Stück der Hausmauer war zu sehen, am rechten Bildrand der hintere Teil eines Fahrrads neben einem Müllsack.
    Wilburs Vater sah alt aus und müde, seine Augen waren schmal und lagen tief in dunklen Höhlen. Auf die Rückseite war ein Datum gekritzelt, aber die Jahre hatten die Tinte ausgebleicht und die Zahlen unleserlich werden lassen. Nach dem Abendessen hatte Sune ihm erzählt, er habe die Aufnahme im Winter 1991 erhalten, zusammen mit einem Brief aus New York. Im März 1993 sei ein zweiter Brief gekommen, das letzte Lebenszeichen von Lennard.
    Wilburs Vater war nach dem Tod seiner Frau auf einem Frachtschiff nach Rotterdam gefahren und von dort aus nach Schweden. Beim Wiedersehen mit seinen Eltern fand nicht die erhoffte Aussprache und Versöhnung statt. Sein dürrer Vater, von einem verschwommenen Jugendtraumheimgesucht, baute in einer Scheune an einem Boot, das nie Wasser berühren würde, kauerte im Bauch eines wackligen Holzgerippes und wusste alles über Verantwortung und Treue, Pflicht und Verrat, aber nichts über Vergebung und Liebe. Die Mutter saß vor dem Fernseher und gab vor, ihren Jungen nicht zu kennen, und als Lennard den Apparat ausschaltete, fing die alte Frau an zu weinen und schreien, bis Nachbarn an die Fenster klopften und Lennard in sein ehemaliges Kinderzimmer floh, das noch so aussah wie am Tag seiner Abreise nach Amerika. Er legte sich auf das Bett, döste irgendwann für ein paar

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