Nach Hause schwimmen
Greisen, und wenn ich mit einer Frau alleine in einem Zimmer bin, lähmen mich Sehnsucht und Angst.
»Ich kann mich in kein Kino setzen«, sagt Aimee nach einer Weile. »In kein Konzert. Keine Lesung. Keine Kirche.« Sie stellt ihre leere Tasse auf das Tablett. »Ich kann zehn Minuten still sein, vielleicht zwanzig. Dann muss ich was sagen. Irgendwas. Meistens rufe ich etwas, ein Wort, einen Satz.« Sie sieht mich an, und ich nicke, als wüsste ich genau, wovon sie spricht. Dabei habe ich keine Ahnung. »Bei der Hochzeit meiner Cousine habe ich mitten in der Zeremonie laut ›Grabschmuck!‹ gerufen, weil das auf der Visitenkarte der Blumenhandlung stand, die ich in der Hand hielt. Ich rufe meistens etwas, das ich irgendwo lese. Es ist wie ein Zwang. Eine Art Tourettesyndrom. Bloß dass es nach einem Wort oder Satz vorbei ist. Tourettesyndrom light.« Sie lächelt versonnen und schüttelt dabei kaum merklich den schief gelegten Kopf, als erinnerte sie sich wehmütig an einen harmlosen Jugendstreich, den sie sich längst verziehen hat. Dann gießt sie Tee in ihre Tasse.
Eine Weile sagen wir beide nichts. In Dobbs’ Zimmer flüstert eine Radiosprecherin. Draußen hupt ein Auto, weit entfernt. Der Ofen klickt. Ich lege das Wörterbuch zurück in den Koffer und klappe den Deckel zu. Ich trage eine graue Trainingshose, Wollsocken, ein blaues Sweatshirt und einen Bademantel aus dickem geripptem Frottee, dessen rot und grün gestreiftes Muster einem vor den Augen flirrt. Ich habe ihn in einem seit längerer Zeit leerstehenden Zimmer im dritten Stock gefunden und zur Reinigung gebracht. Der Zettel mit der Abholnummer hängt noch immer an einer Sicherheitsnadel an einer der Gürtelschlaufen, um mich daran zu erinnern, dass das Ding wirklich einer chemischen Behandlung ausgesetzt war. Ich merke, dass Aimee mich ansieht.
»Was?« frage ich.
»Nichts«, sagt Aimee. Sie stellt ihre Tasse auf das Tablett und den Koffer auf den Boden. Sie kniet sich neben mich aufs Bett, streift sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. Im unbestimmten Licht des Zimmers ist der Halbmond auf ihrer Wange kaum noch zu erkennen. Ihr Haar riecht nach Vanille und feuchter Wolle. Sie hebt den Kopf und sieht mich an. Ihr Gesicht nahe an meinem, halte ich ihrem Blick stand. Im grünen Teich ihrer Pupillen glitzern kupferne Fische. Ich könnte ihre Sommersprossen zählen, aber ich will nicht. Was ich will, weiß ich nicht wirklich, ich habe eine Ahnung davon, einen Traum. Sie kommt näher, und ich spüre ihren Atem. Zittern ihre Wimpern? Zittere ich? Ihre Lippen sind warm, süß von Zucker und Milch. Ich mache die Augen zu und öffne sie, sehe, dass ihre geschlossen sind, und schließe meine ebenfalls wieder. Aimees Zungenspitze berührt meine Lippen, teilt sie.
Ich weiß nicht, wie ich atme, aber irgendwie bekomme ich Luft. Mein Herz füllt mich aus, wächst in den Hals, es bebt. Ich bin nicht mehr müde. Vielleicht schlafe ich längst. Die leisen Geräusche. Die Nähe. Jetzt also.
Aimee schläft. Sie ist jemand anders, weit entfernt. Ihr Haar ist dunkler vor dem Weiß der Laken. Ihr Atem geht so langsam, dass es mir manchmal Angst macht. Ich habe den Ofen ausgeschaltet, der Raum ist warm. Licht fällt durch die dünnen Vorhänge, gerade genug, um den Flaumauf ihren Armen schimmern zu lassen. Aus Dobbs’ Zimmer dringt, kaum hörbar, Musik, noch immer oder wieder. Der schlaflose Dobbs, tagträumend von Stille und Vergessen, unfassbar erschöpft. Aimees Kleider liegen auf der Bettdecke, die Arme ihres Pullis umschlingen meine Trainingshose. Ich sehe sie an. Wenn sie ausatmet, entweicht ihr ein Stöhnen, so leise, dass nur ich es höre. Feine Risse schraffieren ihre Lippen. Unter ihren Lidern drehen sich die Pupillen wie verborgene Planeten. Aimee, geborgen im Universum des Schlafs. In meinem Kopf steht eine Maschine unter Strom, die ein Abbild von ihr anfertigt, für immer. Aimee, die mich befreit hat, die mich erlöst hat. Die sich meiner erbarmt hat.
Ich ziehe mich an, stelle die Teetassen neben die Kanne auf das Tablett und gehe leise aus dem Zimmer. Auf dem Flur ist es still und kühl. Ich stelle das Tablett vor Dobbs’ Tür, ich will jetzt nicht mit ihm reden, ihm nichts erzählen. Ich gehe die Treppe hinunter in die Lobby, wo Leonidas sitzt und schreibt. Die Lampen über der Empfangstheke brennen nicht, Licht kommt nur von den beiden Notausgangbeleuchtungen, dem Neonschriftzug draußen über dem Eingang, dessen Blau, vermischt mit dem
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