Nach Hause schwimmen
hatte.
Doch Wilbur bedurfte keines Trostes. Dass das hässliche, sonderbar riechende Paar ihn nicht in die Arme geschlossen hatte, war ihm nur recht gewesen. Hätte diese bucklige Alte etwa Orla ersetzen sollen? Was hatte er überhaupt mit diesen Leuten zu tun? Nur weil sie verwandt waren, bedeutete das noch lange nicht, dass sie mehr als Gleichgültigkeit füreinander empfinden mussten. Wilbur konnte gut auf neue Großeltern verzichten. Wenn die beiden ihren Sohn damals nicht verstoßen hätten, wäre dieser nach dem Tod seiner Frau zu ihnen zurückgekehrt, statt im Chaos von New York City zu verschwinden. Er hätte sich eine Weile in seinem alten Kinderzimmer verkrochen und getrauert, und die Mutter hätte ihm seine Lieblingsspeisen gekocht, um seine Seele zu heilen. Dann, vielleicht nach einem Jahr, hätte er seinen Sohn zu sich geholt. Er wäre mit dem Jungen nach Irland gefahren, um ihn Orla und Eamon zu zeigen. Die Hügel, der weite Himmel und das Meer hätten ihm gefallen, und er wäre geblieben. Seine Eltern wären regelmäßig zu Besuch gekommen, und er und Wilbur hätten einmal im Jahr eine Reise nach Schweden gemacht. In Nora hätte Lennard seinem Sohn das Schwimmen beigebracht. Zu Hause wäre Wilbur von Felsen ins Meer gesprungen, Orla hätte applaudiert. Lennard hätte die Kiste mit dem Revolver gefunden, nicht die beiden Jungen. Conor hätte nicht auf seinen Vater geschossen. Orla wäre nicht verunglückt.
Alles wäre anders geworden.
»Wilbur?« Sunes Stimme summte in Wilburs Kopf.
»Lass ihn«, sagte Ulrika leise, »er schläft.«
Eine Kirchenglocke schlug. Wilbur schlief nicht. Er wollte nur nie wieder die Augen öffnen.
9
Ich habe meine Sachen wieder. Der Koffer liegt offen auf dem Bett, und ich sitze davor und nehme die Dinge nacheinander in die Hand. Aimee sitzt auf dem Stuhl und trinkt Tee, den Dobbs vor einer halben Stunde gebracht hat. Er hat geklopft und mir ein Tablett entgegengehalten, auf dem ein Teekrug und zwei Tassen, eine Glasschale mit Zuckerwürfeln und ein Kännchen Milch standen, und hat gesagt, das sei für uns. Ich war erstaunt und verlegen und habe ihn gefragt, ob er eine Tasse mit uns trinken wolle, aber natürlich hat er nein gesagt und ist zurück in sein leeres Zimmer, wo das Radio leise Swingmusik spielte und noch immer spielt.
»Und? Fehlt etwas?« fragt Aimee. Sie hat ihren Mantel wie eine Decke über die Beine gebreitet und hält die Tasse mit beiden Händen fest.
Ich nehme das Wörterbuch hervor, das Matthew mir für die Reise nach Göteborg gekauft hatte. Er war überzeugt, dass ich als Wunderkind nur ein bisschen darin zu blättern brauchte und nach dem Flug fließend Schwedisch sprechen würde.
»Nein«, sage ich, »alles da.« Ich kann tatsächlich etwas Schwedisch. Jag är din son. Ich bin dein Sohn. Jag älskar dig. Ich liebe dich. Jag hatar dig. Ich hasse dich. An etwas anderes kann ich mich nicht erinnern. Ich bin müde, es ist fast zwei Uhr morgens.
»Dein Tee wird kalt«, sagt Aimee und gibt mir die Tasse, die auf dem Tablett am Boden steht. Dabei rutscht der Mantel von ihren Beinen, aber sie lässt ihn liegen. Der Ofen hat das Zimmer leidlich erwärmt, die Luft riecht nach verbranntem Staub und glühendem Metall.
Ich nehme den Plastikhalm aus dem offenen Etui, das auf dem Nachttisch liegt, und trinke. Wäre ich hellwach, würde ich das nicht tun, würde den lauwarmen Tee löffeln oder einfach stehen lassen. Aimee sieht mich an, als würde ich einen Zaubertrick vorführen. Dann zieht sie die Augenbrauen hoch und lacht tonlos. Ich kenne diese Mimik, sie bedeutet: Was in aller Welt tust du da?! Ich erzähle ihr von meiner Panik vor Wasser, von Taggarts Tempel, meiner täglichen Mutprobe beim Duschen. Dabei sieht sie mich mit amüsiertem Erstaunen an, wie sie vermutlich jemanden ansehen würde, der ihr gesteht, eine Metallplatte im Schädel zu haben, mit der er Nachrichten aus dem All empfängt.
»Ich muss die Flüssigkeitsmenge, die ich über den Mund aufnehme, genau dosieren können, sonst habe ich das Gefühl zu ertrinken«, sage ich.
Aimee nickt. Vermutlich wägt sie gerade ab, ob ich ein harmloser Spinner oder ein unberechenbarer Psychopath bin. Ich sauge den Rest des mittlerweile so gut wie kalten Tees durch den Halm, jetzt ist es sowieso egal. Ich bin Will McDermott alias Wilbur Sandberg, verhinderter Selbstmörder mit partiellem Gedächtnisverlust, zwanghafter Trinkhalmbenutzer und traumatageschädigter Nichtschwimmer. Ich lebe unter
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