Nach Hause schwimmen
Stunden ein und verließ das Haus am frühen Morgen, bevor die Eltern wach waren. Müde und niedergeschlagen ging er durch den Ort seiner Kindheit, legte sich am See auf einen der Bootsstege und dachte an die Streifzüge mit Sune, an die verbotenen Plätze, die hellen Bäuche der betäubten Fische, die Augen der verrückten Bauerntochter, die für ein paar Öre ihre Brüste zeigte, an die Leiche des Jungen aus seiner Klasse, der an Blutvergiftung gestorben und aufgebahrt worden war, an das Gewicht des Messers, das Sune für ihn von einem Marktstand stehlen musste und das Lennard keine Stunde später in den See warf.
Als das Licht des aufsteigenden Tages den Himmel wölbte, schlief Lennard ein. Am Nachmittag setzte er sich in eine Kneipe, und am Abend stolperte er durch die Straßen und in Sunes offene Arme. Fünf Monate blieb Lennard bei seinem Freund, der damals alleine in einem Blockhaus im Wald wohnte, fuhr mit ihm zum Angeln auf den See hinaus, hackte Holz für den Winter und lief tagelang durch die Wälder, froh, niemandem zu begegnen. Dann hielt er den Gedanken an die tote Frau und das zurückgelassene Kind nicht mehr aus, fuhr auf einem Containerschiff nach Saint John und überquerte in einem Bus voller Wochenendausflügler aus New Brunswick die kanadisch-amerikanische Grenze. In New York angekommen, verließ ihn der Mut, seinen Sohn zu sehen, und er beschloss zu warten, bis er bereit dazu war.
Am nächsten Morgen fuhr Ulrika nach Örebro, um Wilburs Flugticket zu besorgen. Sune und Wilbur spazierten durch Nora, sahen sich das Haus an, in dem bis 1979 der Eisenwarenladen von Lennards Eltern untergebracht war, und machten dann auf Sunes Motorrad einen Ausflugaufs Land, wo Magnus und Selma Sandberg wohnten. Entgegen Ulrikas Rat hatte Sune Wilburs Großeltern nicht vorher angerufen, um den Besuch des Enkelkindes anzukündigen, und als er mit dem Jungen den Kiesweg zu dem blauen Holzhaus entlangging, befielen ihn leise Zweifel.
Dann stand plötzlich Magnus in Gummistiefeln und Gartenschürze vor ihm. Sune legte beide Hände auf Wilburs Schultern und stellte ihn dem alten Mann vor. Magnus Sandberg, der groß und dünn wie sein Sohn war, musterte Wilbur stumm. Auch Wilbur gab keinen Ton von sich, erwiderte den Blick seines Großvaters und überlegte, ob der Alte wohl so verrückt war wie Eamon McDermott, der stapelweise Hefte mit wirrem Zeug gefüllt hatte. Sune erzählte irgendetwas von Irland und einer langen Suche, aber weder der Junge noch Magnus hörten ihm zu. Schließlich stellte Magnus die leere Gießkanne auf den Boden, ging zur Haustür, zog umständlich die Stiefel aus und betrat in Socken den Flur. Er sagte nichts, aber weil er die Tür offen ließ, folgten ihm Sune und Wilbur.
Im Wohnzimmer saß Selma in einem Sessel und löste die Knoten eines Wollknäuels. Der Fernseher lief, John Wayne und ein Indianerhäuptling unterhielten sich auf Schwedisch. Magnus stellte sich schweigend neben seine Frau, und Sune erklärte noch einmal, wer Wilbur sei. Selma sah sich Wilbur an, nickte dabei träge und zupfte mit dürren, fleckigen Fingern am Garn. Sune, dem die Situation mit jeder Sekunde unangenehmer wurde, sagte, Wilbur habe den weiten Weg auf sich genommen, um seine Großeltern kennenzulernen, aber auch diese Lüge vermochte den beiden Alten keine Gemütsregung zu entlocken. Als der Film von Werbung unterbrochen wurde, packte Sune den Jungen am Arm und zog ihn wütend murmelnd mit sich hinaus. Er trat gegen das hölzerne Gartentor und einen Blumentopf, der zersprang, ließ den Motor der alten flaschengrünen Husqvarna aufheulen, bis ein Nachbar vor einem weit entfernten Haus erschien, und fuhr, nachdem Wilbur auf dem Sozius saß, mit durchdrehendem Hinterrad davon.
Nach dem Besuch war Sune am Boden zerstört. Er machte sich Vorwürfe und beteuerte, Magnus und Selma noch nie so erlebt zu haben. Er sei esgewohnt, dass die beiden sich in stumme Verschlossenheit kapselten, sobald er Lennard erwähne, aber dass sie ihren Enkelsohn wie einen Fremden, ja wie einen Feind behandelten, könne er nicht begreifen. Wilbur versicherte ihm, die Reaktion seiner Großeltern mache ihm nichts aus, doch erst als Ulrika mit dem Flugticket und Esswaren zurückkam, hellte sich Sunes Stimmung ein wenig auf. Weil schönes Wetter war, gingen sie zum See und legten sich auf eine Wiese. Sune meinte, Wilbur aufmuntern zu müssen, und erzählte, wie er Lennard das verbotene Fischen mit einer Autobatterie beigebracht
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