Nach Hause schwimmen
kraftlosen Leuchten der Morgendämmerung, durch die Fenster sickert, und dem Monitor des Laptops. Die Wanduhr neben den Schlüsselfächern zeigt zehn vor sechs. Randolphs Schicht beginnt um sieben.
»Morgen«, sage ich.
»Du bist früh dran«, sagt Leonidas und sieht mich an. Ich würde gerne wissen, wozu seine Mutter ihm in meinem Fall geraten hat. »Vollmond.«
»Vermutlich«, sage ich. Ich wusste nicht, dass wir Vollmond haben. Vielleicht hat Aimee deshalb mit mir geschlafen. Leute tun die verrücktesten Dinge in Vollmondnächten. Roch ihr Atem nicht ein wenig nach Alkohol, ihr Pullover nach Haschisch? Gut möglich, dass sie verkatert in meinem Bett liegt und sich wünscht, sie könnte die Zeit zurückdrehen.
»Ich schreibe eine Komödie«, sagt Leonidas. »Ein Boulevardstück. Schluss mit den Tragödien. Die Leute mögen das nicht.«
»Gute Idee«, sage ich. Auf dem Sofa liegen Zeitungen. Ich setze mich hin und überfliege die Lyrik der Schlagzeilen, die Prosa der Katastrophenmeldungen, die ganze Litanei des Elends. Auf der Straße fährtein Wagen vorbei, eins seiner Blechteile schleift über den Asphalt. Ein paar Funken stieben und verlöschen hinter den Fenstern. Ich würde Leonidas gerne fragen, ob Aimee mit ihm gesprochen hat, bevor sie nach oben gegangen ist, zu mir. Er musste sie reinlassen, um zwei Uhr morgens ist die Hoteltür abgesperrt. Ich würde gerne wissen, was sie ihm erzählt hat. Hallo, in diesem Koffer sind ein paar Klamotten, ein Spielzeugindianer, ein Nashorn aus Ton, Fotos und anderer Kram, Wilburs gesamter Besitz, ohne den er, glaube ich, nicht leben kann. Ich falte die Zeitungen zusammen und werfe sie in den Mülleimer hinter der Theke. Der Computerbildschirm ist ein erhelltes Fenster, gefüllt mit Wörtern. Die Kühlung summt, ab und zu knistert die Festplatte. Warum fragt Leonidas nicht, wer sie ist? Wahrscheinlich denkt er sich seinen Teil. Dass Aimee zu schön für mich ist. Zu groß, um einen halben Kopf. Er reimt sich zusammen, dass irgendwas nicht stimmen kann mit ihr.
»Sie ist nett«, sagt Leonidas. Dabei tippt er konzentriert.
»Was? Wer?«
Leonidas sieht mich an, grinst. »Schläft sie noch?«
Ich habe die Nacht mit einer Frau verbracht, laut Statistik über fünfeinhalb Jahre zu spät. Ich habe sie mit nichts bezahlt als grenzenloser Verblüffung und Dankbarkeit. Das Zimmer roch nicht nach Hund, nirgendwo grölten betrunkene Männer. Ich bin kein Aussätziger mehr, ich gehöre dazu. Und jetzt rede ich mit einem Kumpel darüber, wie andere Jungs in New York, in Amerika, auf der ganzen Welt. In dieser Nacht bin ich zu einem normalen Menschen geworden, zumindest was diese eine Sache betrifft. Am Rest werde ich arbeiten.
»Ja«, sage ich. Grinse ich dabei wie er? Soll ich noch etwas sagen? Etwas Witziges? Anzügliches? Vielleicht erwartet Leonidas, dass ich davon erzähle, dass ich angebe, intime Details preisgebe, weil es zum Ritual gehört. Ich stehe an der Theke, ein Gast, der ein Zimmer will, einen Ort, um seine Heimatlosigkeit aufzubewahren. Der Kugelschreiber ragt aus einem Loch in einem bibelgroßen Steinblock, an den er mit einer Schnur gebunden ist, weil Leute Kugelschreiber stehlen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Mir fällt nichts Schlüpfriges ein, und mit Verliebtheit und dem labyrinthischen Gefühl wallender Verzückung kann ich Leonidas ja wohl nicht kommen.
»Sie ist in meinem Stück«, sagt Leonidas.
»Aimee?«
»Heißt sie so? Ja. Sie hat die ganze Zeit diesen Koffer bei sich. Am Ende des dritten Akts öffnet sie ihn. Und weißt du, was drin ist?«
Ich zucke mit den Schultern. Erinnerungsstücke, könnte ich antworten. Überbleibsel. Dinge, die manchmal trösten und manchmal nicht.
Das Telefon klingelt. Leonidas meldet sich, dann lacht er und spricht Griechisch. Irgendeiner seiner dreitausend Verwandten. Ich hebe die Hand, er auch, und ich gehe nach oben. Weil ich nicht weiß, wie so eine Geschichte weitergeht oder was von mir jetzt erwartet wird, ob ich Aimee wecken darf, ob ich sie wecken muss, wie ich sie wecken soll, ob sie überhaupt noch da ist oder schon weg, meine Abwesenheit dankbar ausnutzend, in hastig übergestreiften Sachen die Feuerleiter hinuntergeklettert, humpelnd in ungeschnürten Schuhen, mit dem Schal nach einem Taxi winkend, eine verschlafene, hellwache Gestalt, gerade einer Beinahekatastrophe entkommen, weil ich all das nicht weiß, bleibe ich im Niemandsland meiner Etage auf der obersten Stufe stehen und warte.
Matthews
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