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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Atemübungen helfen, aber sie ersetzen nicht fünfeinhalb Jahre Erfahrung. Ich wusste nicht, was ich Leonidas erzählen sollte, und ich weiß nicht, was ich Aimee sagen soll. Dass es nicht regnet? Dass die Nacht schön war? Wenn ich ihr sage, dass es das Schönste war, was ich in meinen zwanzigeinhalb Jahren erlebt habe, ist ihr gleich klar, dass ich nicht normal bin, dass es mit mir etwas auf sich hat, über das zu reden unangenehm wäre. Haben wir letzte Nacht geredet? Ich kann mich nur an Gestammel erinnern, an Keuchen, gelegentliches Glucksen. Musste ich ihr gestehen, dass ich Jungfrau war, oder sprach meine Unbeholfenheit Bände? Habe ich die drei Worte geflüstert, oder kamen sie aus Dobbs’ Radio?
    Nach einer Weile gehe ich ohne jegliche Erkenntnis weiter, stehe viel zu plötzlich vor meiner Zimmertür und lege ein Ohr daran. Stimmen. Knisterndes Fernsehmurmeln. Falls ich einen Plan hatte, verwerfe ich ihn und klopfe an.
    »Ja?« Es ist ihre Stimme. Sie ist noch da. Sie sitzt nicht fröstelnd in einem Taxi und sehnt sich nach einer langen gründlichen Dusche.
    »Ich bin’s«, sage ich. »Will«, füge ich rasch hinzu.
    »Komm rein!«
    Ich atme alle Luft ein, die ich auf dem stickigen Flur kriegen kann, und betrete das Zimmer. Aimee sitzt angezogen auf dem Bett und sieht fern, eine Talkshow. Leute beschimpfen sich vor Publikum. Wegen der Bildstörung sieht es aus, als ob ein endloser Strom wabernder Flüssigkeit über sie gegossen würde.
    »Hi«, sagt sie und schaltet das Gerät aus.
    »Hallo«, sage ich. Weil ich nicht weiß, ob ich sie küssen soll, gehe ich rasch zur Kommode, um Dobbs’ Zuckerdose in die Hand zu nehmen. Die weißen Würfel sehen aus wie ein kleines eingefallenes Iglu.
    »Bis du schon lange wach?«
    »Es geht.«
    »Musst du heute arbeiten?« Sie schwingt die Beine über den Bettrand und schlüpft in ihre Schuhe.
    Ich sehe ihr zu, wie sie die Schnürsenkel bindet. Ich liebe es, Leuten dabei zuzusehen. Es existieren Unmengen verschiedener Techniken, wie beim Zähneputzen oder Wäschefalten.
    »Eigentlich schon«, sage ich. Mein Tagesplan sieht die Reinigung der Lobby, das Kehren vor dem Eingang und das Ausmisten der Besenkammer in der zweiten Etage vor. Dazu kommt der Katalog aus Kleinkram, der anfällt, weil das Hotel, einem kranken Organismus gleich, rund um die Uhr mit Rissen und Flecken und Löchern seinen allmählichen Zerfall offenbart.
    »Kannst du den Nachmittag frei kriegen?« Aimee steht auf und zieht den Pulli an.
    »Weiß nicht«, sage ich. »Da muss ich Randolph fragen.« Das wäre mein erster freier Nachmittag in zwei Wochen.
    »Gut«, sagt Aimee. Sie hebt mit beiden Händen ihr Haar aus dem Kragen, kommt zu mir und küsst mich auf den Mund, kurz nur, fast flüchtig, wie eine Frau, die zur Arbeit geht. »Und jetzt hab ich Hunger.« Damit ist sie aus dem Zimmer.
    Ich stehe da mit der Zuckerdose in den Händen und sehe auf das Stück Flur im Türrahmen, den roten fusseligen Teppich, die zerkratzte, mit schwarzen Striemen bedeckte Wandleiste und die Tapete, derenBlau fleckig ist, ein Himmel voller Risse und gekritzelter Botschaften. Dann ertönt, begleitet vom Ächzen des erwachenden Fahrstuhls, Aimees Stimme: »Kommst du?«
     
    Der Speiseraum ist so groß wie die Lobby, aber fensterlos. Von der Decke hängen weißschalige Lampen, deren Licht auf ein Dutzend Tische fällt. Die Stühle sind zusammengetragen, Holz, Metallrohr und Kunstleder, Plastik, jeder Tisch hat andere. An den Wänden hängen gerahmte, großformatige Schwarzweißfotos, Aufnahmen des Hotels aus besseren Tagen. Hinter einer Kantinentheke steht Madame Robespierre in ihrer weißen Uniform und der schwarzen Kopfbedeckung, die einem Cowboyhut für Kinder nicht unähnlich sieht. Randolph sagt, sie komme aus Haiti, Leonidas meint, sie sei Puertoricanerin, und Alfred und Mazursky tippen auf Mississippi oder Alabama, während Enrique behauptet, Madame Robespierre sei zweifelsfrei Kubanerin. Jeder hat für seine Theorie Erklärungen, aber nicht einmal Randolph, der die sechzig-, vielleicht siebzigjährige Frau eingestellt hat, Beweise. Das Essen, das sie mit dem wenigen Geld, das ihr zur Verfügung steht, jeden Morgen zubereitet und das ein wilder, sensible Mägen ignorierender Mix aus Cajun-Küche, Karibik und westlicher Fast-Food-Kultur ist, macht das Rätseln um ihre wahre Herkunft nicht einfacher, ebenso wenig wie die Tatsache, dass sie außer ein paar Worten melodischen Englischs keinen Ton von sich gibt.
    Leonidas

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