Nach Hause schwimmen
Er würde wissen wollen, warum Wilbur um Mitternacht durch die Flure spazieren und eine verschlossene Tür öffnen konnte, woher er den nachgemachten Schlüssel hatte und wie er an den Schnaps und die Streichhölzer gekommen war. Es würde eine Untersuchung geben, und das war das letzte, was die Gang in ihren Mauern brauchte. Wilbur würde nicht die Treppe hinunterfallen, er würde von einem Güterzug überrollt werden.
Conor musste die Krankenstation nach einem Tag verlassen. Doktor Carrigan hatte ihm Zähigkeit und eine gute Gesundheit bescheinigt, auf die Schulter geklopft und die Salbe gegen Prellungen geschenkt. Moriarty, von Foley begleitet, holte Conor ab und unterhielt sich dann über eine Stunde in seinem Büro mit dem Jungen, dessen Lippen nach wie vor geschwollen waren. Conor musste dem Direktor noch einmal die ganze Geschichte erzählen, wie er nicht schlafen konnte, den Rauch roch und die Tür eintrat, wie er den halb bewusstlosen Wilbur vom Feuer wegzerrte und die Flammen mit einem Teppich und Wasser aus einer Vase und einer Gießkanne löschte. Wie er später in der Nacht, nachdem er Moriarty den Hergang zum ersten Mal geschildert hatte, den Schlafsaal verließ, um frische Luft zu schnappen, und, vom Rauch noch leicht benebelt, die Treppe hinunterstürzte.
Anders als Doktor Carrigan war Moriarty dazu bereit, Conors Geschichte zu glauben, zumindest teilweise. Dass manche nicht schlafen konnten, aus schlechten Träumen aufwachten oder bei einem einsamen Gang durch die Flure ihren Gedanken nachhängen wollten, konnte er verstehen. Das verstieß zwar gegen die Regeln, aber es war kein Verbrechen. Bei seinem Antritt hatte Moriarty die Anordnung seines Vorgängers, die Türen der Schlafräume nachts abzusperren, aufgehoben, nachdem er über den Brand in einem südamerikanischen Gefängnisgelesen hatte, bei dem zahllose Gefangene umgekommen waren. Er fragte Conor, ob er Wilburs Motive kenne, und gab sich mit einem ahnungslosen Nein zufrieden. Bevor er ihn gehen ließ, zeigte er ihm den Brief, den er vor ein paar Tagen verfasst hatte und in dem er Conors vorzeitige Entlassung anregte.
Nachdem Conor gegangen war, stellte Moriarty sich eine Weile ans Fenster und blickte auf die fernen Hügel, die zum ersten Mal seit Tagen im Sonnenlicht schimmerten. Seine Hand krampfte sich um den Griff des Stocks, seine Augen waren müde. Er wollte sich setzen, blieb aber stehen und dachte daran, wie es wäre, diese Arbeit aufzugeben. Ob es leicht sein würde, Four Towers zu verlassen und die Jungen und Miss Rodnick, Foley, Cormack, Geraldine und alle anderen im Stich zu lassen. Er überlegte, wie er sein Kündigungsschreiben formulieren würde, ob er den Mut haben würde, Versäumnisse einzuräumen. Ob er seinen guten Ruf aufs Spiel setzen und zugeben würde, dass hier Dinge geschahen, die er nicht für möglich gehalten hatte. Zugeben, dass in seiner Anstalt Jungen andere Jungen krankenhausreif prügelten, dass neben seinem noch ein anderes Gesetz herrschte, ein strengeres.
Tauben flogen vorbei, und er fragte sich, was aus ihnen werden würde, wenn er ginge. Sein Lebenswerk, überlegte er, würde Schaden nehmen, ein Falke seinen Platz einnehmen und Four Towers mit eiserner Hand führen. Er würde sich eine andere Stelle suchen müssen, mit vierundfünfzig. Elizabeth wäre vermutlich nicht angetan von diesen Veränderungen. Nicht jetzt, wo ein Kind in ihr wuchs.
Seine Hand zitterte, und er wechselte den Stock in die Linke. Wolken zogen heran, die Hügel wurden zu sanften, dunklen Wellen. Er war der Kapitän, und dies war sein Schiff. Nichts von dem, was hier geschehen war, musste nach außen dringen. Keiner der Vorfälle der letzten Tage war besorgniserregend genug, um die Pferde scheu zu machen. Er hatte alles unter Kontrolle, brauchte keine Ratschläge von externen Experten, die durch sein Reich stolzierten und von Videoüberwachung und Disziplinierungsmaßnahmen schwärmten. Er konnte auf die Gutachten dieser eiskalten Kerle verzichten, die das Gefängniswesen in Amerika studiert hatten und aus seinen Kindern Verbrecher und dem Taubenschlag wieder einen Wachturm machen wollten. Er kannte sievon Kongressen, diese Karrieretypen mit ihren Mobiltelefonen und elektronischen Notizbüchern, diese Angeber, die hinter seinem Rücken seinen Führungsstil kritisierten und Witze über seinen Stock rissen. Er hatte ihnen zugehört und wollte sie nicht hierhaben.
Er ging zum Schreibtisch, setzte sich hin und wählte Bill Carrigans
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