Nach Hause schwimmen
der letzte Kunde vom Sessel geklettert war. Er fuhr sich mit der Hand über die Haare, die so kurz waren, dass sie sich nicht mehr wie früher lockten.
Direktor Moriarty, der als Vorsteher des Sozialamtes verwahrloste Kinder mit Läusen und den Bisswunden von Wanzen gesehen hatte, war vom Tag seines Amtsantritts darum bemüht gewesen, die hygienischen Bedingungen in Four Towers zu verbessern und das Ungeziefer, das sich unter dem Regiment seines Vorgängers vermehrt hatte, ein für alle Mal auszumerzen. Groteske Geschichten über seinen Feldzug machten die Runde, und alle rochen nach Essig und Salmiak und Schwefel und dem Mittel, das jede Woche auf die Matratzen gesprüht wurde. Berichte von ehemaligen Insassen kursierten, in denen geschrubbt und geschwitzt und mit kochendem Wasser hantiert wurde. Anekdoten hielten sich, in denen von Quarantänen die Rede war, von Ausräucherungsaktionen und tiefgefrorenen Kissen, von Vorträgen über Wanzenlarven und Milbeneier, von zwischen die Glasplättchen eines Mikroskops gequetschten Flöhen und von Fotos asiatischer Kakerlaken, groß wie Mäuse.
Und von einer Frau wurde den Neuankömmlingen erzählt, die drall und sinnlich war und aus deren Fingerspitzen heiße Strahlen in die Kopfhaut ihrer willigen Opfer schossen, direkt ins brodelnde Gehirn. Die Berührungen dieser Frau, schwärmten die Alteingesessenen, entschädigten für Moriartys manischen Sauberkeitsfimmel, jeder ihrer Atemstöße ins Ohr machte das wöchentliche Schleppen der Matratzen in den Hof wett, und wenn einen ihr praller Busen an der Schulter oder Wange streifte, entlohnte das für all die Nächte, in denen man, benebelt von chemischen Ausdünstungen, im Schlafsaal lag und bei offenen Fenstern fror.
Molly Keegan, die vor ihrer Heirat als Friseuse gearbeitet hatte, kam jeden Monat mit einem Kamm und einem elektrischen Scherapparat nach Four Towers. Im modrig riechenden Duschraum stutzte sie dasHaar der Jungen auf die vorgeschriebenen drei Zentimeter, eine Länge, die Moriartys Hygieneanspruch genügte, ohne zu sehr nach dem uniformen Kahlschlag eines militärischen Millimeterschnitts auszusehen. Molly war sechsundvierzig Jahre alt und hatte einen Mann und drei Kinder. Sie schnitt auch Männern in Altersheimen die Haare, und wenn sie nicht mit Kamm und Schere auf Achse war, fuhr sie Blumen aus. Sie selber hielt sich für verblüht und mäßig attraktiv, und nur manchmal, wenn sie nach einer Kissenschlacht mit ihren Töchtern ihr erhitztes Gesicht im Badezimmerspiegel sah, erinnerte sie sich an die junge Frau, die sie einmal gewesen war.
Dass ihr Anblick den alten Männern im Heim ebenso das Blut in die Lenden treiben könnte wie den halben Kindern in Four Towers, wäre ihr nie in den Sinn gekommen. Wenn ihre Kunden mit geschlossenen Augen auf dem Sessel saßen und dabei unruhig wackelten und leise ächzten, dachte sie entweder an altersbedingte Zuckungen oder jugendliche Ungeduld. Und eilten die Knaben, die ihre Söhne hätten sein können, nach dem Haarschnitt davon, ohne sich zu bedanken oder ihr auch nur in die Augen zu sehen, legte sie es ihnen als Schüchternheit aus.
Molly machte diese Arbeit, weil die Familie das Geld brauchte, aber eigentlich schnitt sie nicht gern Haare. Sie liebte Locken und Pferdeschwänze, aufwendige Hochsteckfrisuren, sanft geschwungene Strähnen und zügellose Mähnen, die bis zur Hüfte reichten. An den kurz gehaltenen Schöpfen herumzuschnippeln widerstrebte ihr zutiefst, die Einheitsschädel fand sie traurig, und die Jungen taten ihr leid. Davon, dass ihre Kunden sich von ihr eine Glatze hätten scheren lassen, um ein paar selige Minuten in der Nähe ihres himmlischen Fleisches zu verbringen, ahnte sie nichts.
Conor war es egal, wer ihm die Haare schnitt und was für ein Bild er danach abgab. Weder seine Frisur noch seine von einer leichten Akne befallene Haut oder sein schlaksiger, unfertiger Körper kümmerten ihn. Den innerhalb von Monaten auf die dreifache Größe gewachsenen Adamsapfel nahm er mit derselben Gleichgültigkeit hin wie die Tatsache, dass die schwarzen Augenbrauen über der Nasenwurzel zusammenwuchsen und an seinen langen Armen riesige ungeschickte Händebaumelten. Er würde sich auf den eigens gezimmerten Sessel setzen und Mollys Routine hingeben. Er würde ihren Geruch aus Seife und Schweiß und aufgewärmtem Essen einatmen, dem Summen des Geräts lauschen und dabei die Augen geschlossen halten. Er würde versuchen, nicht daran zu denken, woran die
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