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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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den Gedanken, das Gesicht ihrer Mutter wie eine dünne, leicht verrutschte Folie über ihrem eigenen zu erkennen. Margaret Simmons war neunundsechzig. Ein jahrelanger Streit mit der Tochter hatte vor vier Jahren damit geendet, dass sie an Alzheimer erkrankte und sich an nichts mehr erinnerte, auch nicht daran, Kinder zu haben. Harold, der gute Sohn, besuchte sie zweimal im Jahr im Pflegeheim in Jersey City, wo sie untergebracht war, saß eine Weile mit ihr in der Cafeteria, erzählte von Museen in Kapstadt und Edinburgh, von Matisse und Chagall, von neuen Fertiggerichten, Börsenkursen und Reiseweckern und ging wieder.
    Joseph Simmons, der Vater von Harold und Alice, wurde in Vietnam getötet, als Alice fünfzehn war. Sie habe seine Züge geerbt, hörteAlice als Kind immer, aber jetzt sah sie nichts mehr davon, nicht die geschwungenen Lippen und nicht die Augen, die dunkelgrün und voller Leben gewesen waren. Was sie jetzt sah, war ein weißes, eingefallenes Gesicht, das sie weinen ließ.
     
    Die Treffen der Anonymen Alkoholiker fanden in einem Haus statt, in dem sich früher ein Hutladen, ein Friseur und, in den beiden oberen Stockwerken, die Büros einer Gewerkschaft befunden hatten. Jetzt war im Erdgeschoss ein chinesischer Schnellimbiss einquartiert, und in der dritten Etage wurden Kleider gelagert. Dazwischen lag erstaunlicherweise eine privat geführte Kindertagesstätte, die ihren kleinen Speisesaal gegen einen symbolischen Betrag an die lokale Umweltschutzgruppe, den Frauenverein und die Anonymen Alkoholiker vermietete. Es gab ein Treffen am Mittwochabend und am Sonntagnachmittag, und Alice ging zu beiden. Anders als in Manhattan, saßen hier keine in Schönheit verkümmerten Frauen reicher, vielbeschäftigter Männer, keine an den gnadenlosen Regeln der Wall Street zerbrochenen und zu Trinkerinnen gewordenen Karrierefrauen und keine verbrauchten Schauspielerinnen, die ihren Berühmtheitsgrad so überschätzten, dass sie beim Spaziergang auf der Dachterrasse eine Sonnenbrille trugen und ihr Gesicht verdeckten, wenn ein Hubschrauber über sie hinwegflog.
    In dem Raum im Haus an der Foster Avenue trafen sich Frauen und Männer, die eine Stunde zuvor noch Kaffee serviert, gelangweilte Kinder unterrichtet, Vergaser zusammengebaut und Versicherungen verkauft hatten, Menschen, die unscheinbare Leben lebten und nicht mehr zusehen wollten, wie ihnen alles, was ihnen wichtig war, entglitt. Es kamen Trinker, die am Ende waren und sich nichts mehr erhofften und nur noch dasitzen und wissen wollten, dass es jemanden zum Zuhören gäbe, wenn sie reden würden, dass sie dazugehörten und Menschen mit einem Namen und einer Geschichte waren. Gregory hießen sie und Hank und Rosalyn und Karen, sie waren junge Burschen ohne Arbeit und alte Frauen, denen die Männer und die Hälfte ihres Lebens weggestorben waren.
    Sie hatten winzige Wohnungen und Lebensmittelläden und Schreibwarengeschäfte, und sie schämten sich für ihre Träume, die sich nieerfüllen würden. Sie waren zynisch geworden vor Pech und auf schreckliche Art gelassen gegenüber dem Unglück, das sie bewohnte und unter ihrer Haut lag wie Fett. Sie erzählten weinend und stammelnd und wütend und ungläubig kichernd schlimme Geschichten von Krankheit und Tod und vom Verlassenwerden, von Feuern und verirrten Kugeln in Einkaufszentren, von ertrunkenen Kindern und verlorenen Spielen, von Schulden und Gewalt und Betrug und einem Schmerz, der sie in den Bauch trat und umwarf und nicht nachließ, außer wenn sie tranken.
    Alice war es peinlich, von sich zu erzählen. Dass ihr als junge Frau die Gebärmutter entfernt worden war, hätte möglicherweise genügt, um in den inneren Kreis der Versehrten aufgenommen zu werden, aber der Umgang mit diesem Verlust war ihre Sache, und sie wollte mit niemandem darüber reden. Die Geschichte von dem Mann, der sie verlassen hatte und dafür mit einer Hochglanzfrau und Zwillingen belohnt worden war, entbehrte zwar nicht einer gewissen Tragikomik, erschien ihr jedoch zu trivial, als dass sie damit ihre Anwesenheit hätte rechtfertigen wollen. Davon zu berichten, als Malerin gescheitert zu sein, kam ihr in der beklemmenden Gesellschaft dieser vom Leben wahrhaftig Geschundenen so absurd vor, dass sie lieber log, statt ihnen die Verzweiflung vor einer leeren Leinwand zu schildern.
    Das Schicksal, das sie für sich erfand, war weder zu banal noch zu dramatisch, und niemand in dem Raum, dessen Wände fröhliche Kinderzeichnungen zierten,

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