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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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schien an ihrer Glaubwürdigkeit zu zweifeln.
     
    Harold ließ sich nicht weiter hinters Licht führen und besuchte Alice in Brooklyn. Er verbarg seine Bestürzung über ihren Zustand so gut es ging und bot ihr auch jetzt Unterstützung an, seelische und finanzielle. Er sorgte dafür, dass das Haus auf Long Island an Urlauber vermietet wurde, und kaufte seiner Schwester ein paar Möbel und Küchengeräte. An einem Tag brachte er einen Entsafter, am nächsten einen Dampfkochtopf, und als die Küche davon überquoll, schenkte er ihr einen Fernseher und eine Musikanlage. Gerührt und überfordert ließ Alice diese brüderlichen Liebesbeweise eine Zeitlang über sich ergehen, aber als Harold mit einem Rudergerät und Eiweißpulver auftauchte, bat sie ihn so diplomatisch wie möglich, damit aufzuhören.
    Es ging ihr jede Woche besser. Sie mochte Brooklyn und ihr Quartier, das sie mittlerweile so gut kannte wie damals die Gänge in Chestnut Hill. An die Zeit dort, an die Arbeit und die Kinder und an Lawrence dachte sie kaum noch, und wenn doch, dann mit leiser Wehmut statt bohrender Sehnsucht und dem Gefühl von unauslöschbarem Schmerz und Verlust. Sie hatte gelernt, einen Teil ihres Lebens als gescheitert zu betrachten und nicht weiter damit zu hadern. Aus ihrer Alkoholabhängigkeit nicht mehr herauszukommen, hätte ein weiteres Scheitern bedeutet, und das wollte sie nicht zulassen. Das Trinken hatte sie zum Opfer gemacht, hatte sie zu Boden geworfen und kriechen und lallen und Dinge an einer weißen, leeren Decke sehen lassen, die es nicht gab. Das Trinken hatte die Welt ausgeblendet und ihre Gefühle, und sie forderte beides zurück.
    Das Trinken hatte sie auch in die Nähe von Menschen gebracht, deren Gesichter sie früher nicht einmal als verwischte Schatten wahrgenommen hätte, deren Stimmen kaum ein fernes Geräusch für sie gewesen wären. Durch das Trinken hatte sie einen Kreis von Menschen betreten, die sie nicht kannte, die sie übersehen, vor denen sie sich gefürchtet hatte, Verlorene, leise vor sich hin Murmelnde, scheinbar Funktionierende, unter den Kleidern Zitternde, junge Frauen, die am Fenster eines Waschsalons standen und plötzlich anfingen zu weinen, alte Männer, die ihr nahes Ende als Trost empfanden, als Verheißung. In der Gruppe, deren Zusammensetzung ständig wechselte, saß Alice oft einfach da und hörte sich die Geschichten der Verheerungen und Niedergänge an, und wenn sie danach in die Nacht von Brooklyn trat, fühlte sie sich schwer vom Gewicht des Gehörten, aber auch auf eine befreiende Art offen. Ihre Anteilnahme an den Schicksalen der anderen gab ihr das Gefühl zurück, am Leben zu sein und Teil einer Gemeinschaft, auch wenn diese Gemeinschaft von Krankheit und Verzweiflung zerrüttet war.
     
    Drei Monate nach dem ersten Treffen mit den Anonymen Alkoholikern suchte Alice eine Arbeit. Harold hatte darauf bestanden, dass sie die Mieteinnahmen des Hauses auf Long Island bekam, aber sie wollte ihr eigenes Geld verdienen. Sie fand eine Stelle in einem Reformkostladen, der zwei alten Männern gehörte. Die Bezahlung war mittelmäßig, aberihre Aufgabe im Lager und Verkauf leicht, und am Abend durfte sie Obst und Gebäck mitnehmen, das für den nächsten Tag nicht mehr geeignet war. Umgeben von Vollkornbrot, biologischem Gemüse und naturbelassenen Säften, blieb Alice gar nichts anderes übrig, als sich gesund zu ernähren. Seit achtunddreißig Tagen trank sie keinen Alkohol mehr, und zum ersten Mal in vier Jahren legte sie an Gewicht zu.
    An den Wochenenden besuchte sie manchmal Trevor und Clive, die in der Lower East Side in einem Mietshaus aus den fünfziger Jahren wohnten und auf ihrer Dachterrasse Koi-Karpfen züchteten. Ihre bleiche Haut bekam einen Schimmer von Braun, die Ringe unter ihren Augen verschwanden, und wenn sie sprach, stieg ihre Stimme nicht mehr aus einer lichtlosen, der Welt abgewandten Tiefe auf. Zu den Treffen in der Foster Avenue ging sie noch immer zweimal wöchentlich, und das Zuhören tat ihr weh und erinnerte sie daran, wie nahe am Abgrund sie gestanden hatte, aber es gab ihr auch Kraft und Hoffnung. Zu Carol, einer Frau in ihrem Alter, die erst seit zwei Wochen nicht mehr trank, entwickelte sie so etwas wie eine Freundschaft, die endete, als Carol mit ihrem neuen Freund nach Minneapolis zog und sich nie mehr meldete.
    Ein Kunde des Reformkostladens, ein Englischprofessor und Lebensmittelallergiker, gefiel ihr, aber der Mann interessierte sich nur für

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