Nach Hause schwimmen
Manchmal verfluchte sie ihren Bruder, weil er dieses Haus gekauft hatte, diesen finsteren, verwinkelten Klotz, statt einen sonnendurchfluteten Würfel aus Glas in New Mexico. Sie rief die Galeristin an und hoffte, nach Key West eingeladen zu werden, aber daraus wurde ebenso wenig wie aus einem Besuch in Puerto Rico,wo Harold eine Ausstellung über die Pioniere des Kubismus vorbereitete.
Weil die Tabletten allmählich ihre Wirkung verloren und Alice es leid war, ständig die Apotheke zu wechseln, um nicht aufzufallen, begann sie zu trinken, erst nur Wein, dann Wodka. Der Alkohol ließ sie die grauen Tage besser überstehen, Regen wurde ihr gleichgültig, wenn sie getrunken hatte. Beim Malen hörte sie jetzt laute Musik. Harolds Sammlung umfasste Hunderte von Schallplatten und Bändern mit Klassik und Jazz. Eingepackt in Haydn und Mingus, die aus den kühlschrankgroßen Boxen dröhnten, malte Alice den Strand und das Meer und den Himmel aus dem Gedächtnis. Den richtigen Himmel sah sie oft tagelang nur noch, wenn sie im Dunkeln zur Arbeit fuhr. Nina Simone und Maria Callas machten sie traurig, dann legte sie sich auf den Boden und sah gegen die Decke, die weiß und leer war. Manchmal wurde sie müde und schlief ein, obwohl die Nadel in der Auslaufrille klang wie das Kratzen eines großen gefangenen Tieres. Wenn um halb neun der Wecker klingelte, musste sie alle Kraft zusammennehmen, um sich anzuziehen und loszufahren, frierend und mit einem dumpfen Hass auf jeden, dem sie in dieser Nacht begegnen würde.
Um sich zu beweisen, dass sie kein Alkoholproblem hatte, trank Alice zwischendurch nichts außer Orangensaft und Tee, vier, fünf Tage, eine Woche lang. Gegen ihre Unruhe nahm sie Tabletten und war stolz, sie nur mit Leitungswasser hinunterzuspülen. Oft lag sie im Wohnzimmer und zählte flüsternd die Namen der Mädchen aus Chestnut Hill auf, an die sie sich erinnerte. Ruby mit den Haselnussaugen und dem Stoffhasen, Maggie, die Angst vor der Dunkelheit hatte und sich nicht umarmen ließ, Rita-Mae, nach deren Weggang es kein Mädchen mehr gab, das Witze erzählen konnte, Alison, stumm und die beste Tänzerin der Welt, Florence und Emily, nur im Paket erhältlich, Carol, die ihren kleinen Bruder vermisste, Muriel, die Bücher verschlang und Berge von Essen, Jill und ihr Traum vom Nach-Hause-Gehen, Esther, schön und so schüchtern, dass sie stotterte, Lea aus dem Land eines verlorenen Krieges, Olivia, die ihre Mutter zeichnete, ohne sie je gesehen zu haben, Elaine, Drama Queen, adoptiert von einem Senator und einer ehemaligen Miss Iowa, Anna, unzugänglich, traurig, Katherine, die mitachtzehn nicht fortwollte, Sarah, mit ihren Kinderlähmungsbeinchen schwer vermittelbar, Joanne, für die Chestnut Hill die fünfte Station war, Debora, vielleicht schon Kindergärtnerin, Nancy und ihre Zerstörungswut, Brenda, die wissen wollte, ob sie hässlich sei, Heather, unnahbar auf der Reise zum Beginn ihres Lebens, Mildred, die sich Schutzhüllen und Fangnetze strickte, Iris, singend, summend, kaum je sprechend, Charlotte mit der Kraft, in allem das Gute zu sehen, Lucille, die kein Mädchen sein wollte, Sophie, schneller als der Wind, Bernice, unsterblich in Lawrence verliebt, dann in den neuen Koch, Nora-Jane, die auf Kommando rülpsen konnte, Maud, die die Briefe ihres Vaters ungelesen zerriss, Pearl mit ihrer Radiostimme, Kimberley, mit sieben adoptiert, Amanda, die ohne Kimberley nicht mehr leben wollte, Rosemary, Gartentierärztin, Megan, mit elf zu oft umhergeschoben, um weiterhin ein Kind zu sein, Bridget, die einmal auf einem Baum im Urwald leben würde, Linda, die nach ihrer Ankunft alle Spiegel zerschlagen wollte, Celia mit ihrer Puppe Harry, der sie die Finger abschnitt, Paula, die Blumen aus Draht bastelte, Sally, Prinzessin, kein Waisenkind und in Chestnut Hill nur aufgrund einer Verwechslung, Patricia, voller Zorn und Pläne, Claire, immer in Weiß, Holly, die weglief, um das Krankenhaus zu sehen, in dem sie zur Welt gekommen war, Wilma, die Inserate verfasste, in denen sie sich als tadellose Tochter anpries, Daphne, glücklich nur in der dampfenden Küche, Teresa, zurückgeblieben in einem fremden Land, Susan, die mit dem Wagen des Postboten losfuhr und bis nach Mount Penn kam, Laura, die im Hof ihren Koffer verbrannte, Diane, die im ersten Sommer nicht ins Freie ging, Helen, die weinte, wenn sie einen Hund sah, Dorothy, die eine eigene Sprache erfand, Martha, die Abschiedsbriefe schrieb und trotzdem blieb.
Alice
Weitere Kostenlose Bücher