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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Lawrence und fand sich schon bald in einem Büro in Chestnut Hill wieder, wo sie zu Beginn zwischen Buchhaltung und Bettelbriefen an einer Biografie über Robert James Mellerton schrieb, einen von der Kunstwelt vergessenen Maler aus Wyoming, der auf Seiten der Union mit seiner Staffelei in den Bürgerkrieg gezogen und 1863 bei der Schlacht von Gettysburg getötet worden war.
    Über Maler, Stilrichtungen und Epochen wusste Alice einiges, in der Theorie kannte sie jede Maltechnik, und von ihrem Lieblingskünstler Renoir wusste sie, wovon er nachts geträumt und wie viele Frauen ergeliebt hatte. Von unterschiedlichen Grundier- und Maltechniken und den Nuancen im Gebrauch der Leinwände, Farben und Pinsel wusste sie kaum etwas, und ihr Talent als Zeichnerin war bescheiden. Die düsteren Bilder waren aus einer Depression heraus entstanden, die Strandbilder aus einer Laune und der Notwendigkeit, leere Wände zu füllen. Jetzt fehlte ihr sowohl der innere Zwang als auch der äußere Reiz.
    Sie setzte sich in den Garten und malte Blumen, kam sich aber schon bald albern vor, weil ihre Rosenbilder aussahen wie schlechte Entwürfe für Tischdecken. Danach versuchte sie es mit Treibgut vom Strand und Muscheln, doch dafür war ihre Technik ebenfalls nicht ausgereift genug, dann malte sie Steine, was als Prozess und Ergebnis langweilig war. Schließlich zerstach sie mit dem Pinselgriff eine leere Leinwand, weil ihr die Motive ausgingen. Tagelang saß sie im Wohnzimmer und blätterte in den Kunstbüchern, die Harold nicht mit nach London genommen hatte. Aber statt inspiriert zu werden, wurde ihr durch das Betrachten der Meisterwerke klar, dass sie eine Stümperin war, bestenfalls eine mäßig talentierte Hobbymalerin, deren Werke von Touristen gekauft wurden, von Leuten in kurzen Hosen, die ihrer Ferienlaune Ausdruck verliehen, indem sie ein nichtssagendes Gemälde kauften, um es zu Hause neben einen Katzenkalender über einen mit Nippes befrachteten Kaminsims zu hängen. Diese Erkenntnis befreite sie zuerst, doch dann traf sie Alice mit solcher Wucht, dass sie ihr nicht standhielt und zusammenbrach.
     
    Wenn sie am Telefon mit ihrem Bruder sprach, klang sie völlig normal. Umgeben von den im ersten Sommer gekauften, grundierten und leeren Leinwänden, erzählte sie ihm von neuen Bildern und einer möglichen Ausstellung im nahen Bellport. Harold, der gerade zwischen London und Dublin pendelte, hatte keinen Grund, seiner Schwester nicht zu glauben, freute sich für sie und versprach, bald zu kommen. Nach den Gesprächen, deren Zeitpunkt und Länge sie selbst bestimmte, stürzte Alice ab, taumelte zurück in einen diffusen Raum ohne Geräusche, eine wattierte Kammer, in der sie hinfallen konnte, ohne Schmerzen zu empfinden.
    Wenn sie trank, war die Zeit eine gekrümmte Linie, die zu ihr zurücklief, eine Schleife aus Wiederholungen, glatt und poliert wie blitzendes Metall. Ihre Tage zerfielen in lose Teile, verschwommene Bilder, derenRänder ineinanderflossen und Schlaf von Hunger trennten, Notdurft von Waschen, Bewusstlosigkeit von Einkaufen. Wochen wurden zu fleckigen, unregelmäßigen Mustern und Monate zu deren Kopien, überbelichtet und verschmiert von wässrigen Farben. Das Leben, wie Alice es wahrnahm, war ein Film, der in einem Nebenzimmer lief.
    Als Harold am Telefon seinen Besuch ankündigte, bat Alice ihn, nicht zu kommen. Sie erfand eine Reise nach South Carolina und eine neue Freundin, ebenfalls Malerin. Stattdessen fuhr sie nach Brooklyn und wies sich selbst in eine Suchtklinik ein. Als Grund gab sie an, nicht sterben zu wollen, was nur zur Hälfte der Wahrheit entsprach. Zwölf Tage blieb sie dort, weil sie den Anfang alleine nicht geschafft hätte, dann mietete sie sich ein winziges Zimmer, ging morgens und mittags auf lange Wanderungen durch die Nachbarschaft und abends zu den Treffen der Anonymen Alkoholiker. Sie war einundvierzig Jahre alt und wog neunundfünfzig Kilo. Weil sie noch immer einen Meter sechsundachtzig groß und rothaarig war, sahen einige Leute auf der Straße sie an, manche erschrocken, manche nur erstaunt. Kinder starrten zu ihr hoch und senkten verlegen den Blick, wenn ihrem bleichen Gesicht ein Lächeln gelang.
    In ihrem Badezimmer hing ein Spiegel, dessen silberne Schicht an der Rückseite abblätterte, zerfranste Löcher im Glas hinterlassend, durch die der Verputz schien. Wenn Alice sich darin betrachtete, war sie fassungslos. Oft stand sie minutenlang im schlechten Licht da und verscheuchte

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