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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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verkuppeln, hatte mit ihr über Filme gesprochen und erwähnt, wie gerne Wilbur ins Kino ging. Einmal hatte sie es so eingerichtet, dass Jenna sie wie zufällig im Park traf und den ganzen Sonntagnachmittag mit ihnen verbrachte. Er konnte Jenna Hoffman nicht leiden, und die Vorstellung, mit ihr zusammenzuarbeiten, ließ ihn erschauern.
    »Aber du hast in Personalfragen natürlich absolut freie Hand«, sagte Alice, als sie Wilburs Gesichtsausdruck von unbeteiligt zu missmutig wechseln sah.
    »Ich finde alles gut, so wie es ist«, sagte Wilbur nach langem Schweigen und verschränkte die Arme vor der Brust. Um über den Wahrheitsgehalt seiner Aussage nicht weiter nachdenken zu müssen, las er die große, handgeschriebene Speisekarte in Alices Rücken. Er hatte Hunger, aber er wollte dieses Gespräch nicht mit einer Mahlzeit in die Länge ziehen.
    »Ich doch auch«, sagte Alice. Offenbar war es ein Fehler gewesen, Jenna Hoffman zu erwähnen, und sie war froh, dass Wilbur wieder den Mund aufmachte. »Aber ich will etwas Neues ausprobieren. Ruth und ich freuen uns auf dieses Projekt.« Sie winkte dem Kellner, der endlich aufgetaucht war und wie zufällig in ihre Richtung blickte, und zeigte auf die beiden leeren Tassen.
    »Was sagen Trevor und Clive dazu?«
    »Sie wissen noch nichts davon. Es ist ja alles noch gar nicht spruchreif. Außerdem hat der neue Laden nichts mit den beiden zu tun. Er wird etwas völlig Eigenständiges.«
     
    Wilbur sah auf die Straße, wo eine Gruppe alter Frauen in durchsichtigen, von den Scheinwerfern und Rücklichtern der Autos gesprenkelten Regenumhängen vorbeischwebten wie plumpe Elfen. Durch die Wasserschlieren auf dem Glas sah er einen großgewachsenen, durchnässten Mann, der sein Vater hätte sein können, und widmete sich wieder der Speisekarte.
    »Harold wird mir einen Kredit geben«, sagte Alice. »Er findet die Idee vielversprechend.«
    »Na dann wäre ja alles geregelt«, sagte Wilbur, stand auf und prallte beinahe mit dem Kellner zusammen, der zwei Tassen Kaffee brachte.
    »Wilbur, jetzt warte doch!« rief Alice, aber Wilbur ging zwischen den Tischen hindurch zur Tür und verließ das Lokal. Alice bezahlte den Kellner und wartete nicht auf das Wechselgeld, aber als sie auf die Straße trat, war Wilbur weg.
     
    Noch im November unterschrieb Alice den Mietvertrag für die ehemalige Zoohandlung und begann mit dem Umbau. Wilbur stellte Ernest Shelby ein, einen dreiundfünfzigjährigen Mann, der zwei Jahre zuvor seine Stelle als Filialleiter eines Supermarkts verloren und seither als Parkplatzwächter, Vertreter und Kurierfahrer gearbeitet hatte. Er war glatzköpfig und korpulent, und wenn er mit Kunden scherzte, klang es, als bewerbe er sich für die Sprechrolle eines Bären oder Gnoms in einem Trickfilm. Seine Frau Rebecca, dreifache Mutter, ehemalige Kugelstoßerin und ausgebildete, aber arbeitslose Sportlehrerin, die bei einer Cateringfirma jobbte, half beim Umbau des neuen Ladens. In der ersten Woche mussten der alte Bodenbelag entfernt und eine Mauer eingerissen werden, und Rebecca erledigte diese Arbeiten mit einem Eifer und konzentrierten Groll, die ahnen ließen, was sie in ihrem Alltag vermisste.
    Obwohl Wilbur die Idee mit dem zweiten Geschäft noch immer nicht guthieß, stritt er sich mit Alice nicht mehr über das Thema. Je mehr Gründe gegen die Expansion er in traurigen Bars und schlaflosen Nächten auflistete, wirtschaftliche und diffus emotionale, desto bewusster wurde ihm, dass er unrecht hatte und dass Alices teilweiser Rückzug aus dem Reformkostladen nur seinen eigenen aus dem schwierigen Zusammenleben mit ihr spiegelte. Die Zuneigung und Unterstützung, die ervon Alice erfuhr, das grenzenlose Vertrauen, das sie in ihn hatte, und die Hoffnungen, die sie für seine Zukunft hegte, das alles erschien ihm wie eine tonnenschwere Last, eine riesige Hypothek, die einzulösen er sich außerstande sah. An guten Tagen nahm er ihre Liebe teilnahmslos und mit schlechtem Gewissen hin, wenn er sich mies fühlte, verloren und als Objekt verschwendeter Zuneigung, verachtete er sie für ihre Sanftheit und Geduld und ihren Glauben an ihn. Jedes Gespräch, das sie vorsichtig begann, jedes Lieblingsessen, das sie ihm bereitete, jede ihrer zaghaften Berührungen bewirkte das Gegenteil des von ihr Beabsichtigten und weckte in ihm den Wunsch, sie anzuschreien und ihr zu zeigen, wie mies und leer er in Wirklichkeit war und wie wenig Sinn es hatte, sich mit ihm zu beschäftigen. In

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