Nach Hause schwimmen
kann sie sehen, bewegen. Die Füße auch, schon stehe ich. Ich setze mich auf den Stuhl neben dem Bett, als würde ich mich besuchen. Ich lege die Hände in den Schoß. Man hat mich in einen weißen Schlafanzug gekleidet, ich habe eine reine Hülle, rieche allerdings etwas streng. Meine Füße sind nackt, Gummischlappen stehen vor dem Bett.
Als Kind hatte ich Fußpilz, nässende Stellen zwischen den Zehen, juckend, anhänglich. Fintan Taggart. Ich habe den Namen des Scheißkerls nicht vergessen, der Geld gesammelt und ein Schwimmbecken gebaut hat, damit wir lernten, nicht abzusaufen wie unsere Großväter, unsere Nachbarn, die am Meeresgrund vermoderten. Eine Halle hatte er errichtet, einen verdammten Tempel, in dem es nach Chlor stank und Moder und ungewaschenen Füßen, ein gekacheltes Loch, ein Schlachthaus. Die Luft war warm und feucht, das Wasser milchig, eine Brühe aus Hautschuppen, Haaren, Rotz und Pisse, das Becken winzig, aber überall so tief, dass man nicht stehen konnte. Stand ich auf dem Einmeterbrett, verschwammen mir die Namen von ertrunkenen Frauen und Männern vor den Augen. Die hatte der Schweinehund auf die Bodenfliesen geschrieben, zur mahnenden Erinnerung an die Opfer der See, wie er uns feierlich erklärte. Fischer, Matrosen, Freizeitsegler, Angler, Paddler, unvorsichtige Kinder, übermütige Jugendliche, der ganze Grund war voll davon, eine einzige Gedenktafel. Eine Warnung, eine Drohung. Eine Prophezeiung.
Ich betaste die schorfige Stelle an meinem Kopf, als sie hereinkommt. Sie ist älter als ich, vielleicht Mitte zwanzig, und sie trägt Pumas, dunkelgrüne Cargohosen mit jeder Menge Taschen und ein T-Shirt in verwaschenem Blau. Von ihrem Gesicht sehe ich nur ein Heftpflaster, das ihre rechte Wange bedeckt, und hellrot geschminkte Lippen. Kurze braune Haare nehme ich noch wahr, bevor ich den Blick abwende, den Kopf senke. Ich bin der Typ, den man aus dem Meer gefischt und der darin die Sprache verloren hat.
»Hallo, wie geht’s denn so?« fragt sie und legt einen Stapel Handtücherin einen Wandschrank. Ihre Stimme klingt eine Spur zu flott für meinen Zustand, immerhin leide ich unter Erinnerungslücken, einer Kopfverletzung und schweren Beinen. Es ist gut möglich, dass man mich hier für einen gescheiterten Selbstmörder hält. Kram beult die Taschen ihrer Hose aus. Sie holt eine Flasche Mineralwasser und einen Teller mit Obst von einem Rollwagen, der auf dem Flur steht, und stellt beides auf die Kommode neben meinem Bett. Ich zucke zusammen, als sie mit einer Hand auf das Kopfkissen eindrischt. Sie lacht.
»Tut mir leid«, sagt sie und wendet das Kissen. Dann schlägt sie die Decke zurück, streicht das Laken glatt und stopft die losen Ecken unter die Matratze. Ohrstöpsel eines Discmans baumeln an einem ihrer Beine. Aus ihrem Hinterkopf ragt ein buschiger Stummel aus Haar, mit einem roten Gummiband zusammengehalten. Ein Stein blitzt in ihrem Ohrläppchen. Sie hebt den Kopf so schnell, dass ich keine Zeit habe, den Blick abzuwenden, und sie sieht mich an, noch immer über das Bett gebeugt.
Nach einer Ewigkeit gelingt es mir, wieder meine Knie zu fixieren. Ich will sie nicht hierhaben, sie soll gehen. Wo ist die mit der Lederhaut und der fremden Sprache, wo die Dicke? Sie schüttelt die Decke und legt sie hin, Luft streicht über mein Gesicht. Sie geht zum Fenster und öffnet es einen Spalt weit, dazu braucht sie einen Schlüssel. Draußen, wo und was immer das ist, herrscht völlige Stille. Meine Zehen sind krumm. Sie soll einfach gehen. Jetzt.
»Bis morgen dann«, sagt sie und geht. Ich höre, wie der Wagen über den Flur geschoben wird, ein leises Quietschen, ein leises Klirren. Ihre Schritte sind unhörbar, vielleicht schwebt sie.
Kurz darauf oder auch Stunden später kommt der Arzt und fragt, ob ich mich an ihn erinnere. Ich liege im Bett und erinnere mich tatsächlich an ihn, seine Stimme, den Akzent, und ich bin irgendwie erleichtert. Er scheint zufrieden, dass ich nicht mehr an die Decke starre. Das wertet er bestimmt als Fortschritt, jedenfalls macht er eifrig Notizen. Ich betrachte die Wand hinter ihm, und wenn er eine neue Frage stellt oder etwas sagt, sehe ich ihn vage an, als löse seine Stimme ein kurzes Leuchten im Dunkel meines Schädels aus, ein Glimmen in der Rumpelkammer meines Gedächtnisses.
An seinem Revers steckt ein Namensschild, M . VERMEER
steht darauf. Dass die Bezeichnung Dr. fehlt, beunruhigt mich nicht.
»Wenn Sie sich besser fühlen, können
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