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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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vielleicht etwas zu dick auf, bis mir einfällt, dass sie echt sind. Ich taste nach meinen Wangen, Flaum statt Bartstoppeln, taube Haut. Meine Zunge ist belegt, die Flugaufnahme eines zerklüfteten Gletschers, auf dem sich Industriedreck abgelagert hat. Ob sich der Arzt hinter dem Fenster abwendet? Ich drehe das Wasser auf, betrachte den Strahl eine Weile und drehe den Hahn wieder zu, lausche dem Geräusch in der Röhre.
    Ich spiele mit dem Gedanken, den Kopf gegen den Spiegel zu rammen. Das würde meinen Aufenthalt hier nicht nur rechtfertigen, sondern noch verlängern, und außerdem ginge der Spiegel dabei vermutlich in die Brüche und gäbe sein Geheimnis preis. Ich berühre mit der Stirn das kühle Glas, stoße zu, dann etwas fester und schließlich so hart, wie es mein Mut zulässt. Ein leichter Schmerz wabert durch meinen Schädel und verliert sich in der Gruft, in der ein Teil meiner Erinnerungen beigesetzt ist. Ich stütze mich mit beiden Händen auf den Rand des Waschbeckens. Ein wenig Blut auf der Schläfe wäre schön gewesen, immerhin kann ich in den nächsten Stunden auf ein Hämatom hoffen, einen Fleck, dunkelblau, mit etwas Glück schwarz. Kann ich aufgrund der Tatsache, dass niemand ins Zimmer gestürzt ist, um mich vor mir selber zu retten, davon ausgehen, dass ich nicht beobachtet werde? Oder macht der oder die Observierende gerade Pause?
    Der Spiegel ist mit vier Schrauben an der Wand befestigt. Ich entferne mit kaum vorhandenen Fingernägeln die verchromten Kappen, unter denen die Schrauben versteckt sind, drücke eine Kappe auf dem Waschbecken platt und benutze sie als Werkzeug. Ich löse eine Schraube nach der anderen, arbeite konzentriert, vergesse die Zeit dabei. Es fließt doch noch etwas Blut, als ich abrutsche und mir den Finger an einem Schraubenkopf aufreiße. Die rote Kostbarkeit schmiere ich mir auf die Stirn. Ich zähle stumm die Gegenstände auf, die sich in meinem Kulturbeutel im Badezimmer des Hotels befinden. Kamm, Nagelschere, Tube Zahnpasta, Zahnbürste, Zahnseide, Flüssigseife, Fläschchen medizinischer Alkohol, Wattestäbchen, Heftpflaster, Pinzette, Schmerztabletten, Ohrenstöpsel, Lippenpomade, Fußpuder, Mückenstichstift, Miniaturtaschenlampe,Dose Rasierschaum, Nassrasierer, zwei Glasmurmeln, blau und braun.
    Die Liste bete ich elfmal herunter, dann halte ich den Spiegel mit der linken Hand fest und drehe alle vier Schrauben heraus. Als ich die letzte Schraube löse, rutscht mir der Spiegel durch die Finger und knallt mit einer Ecke auf das Waschbecken. Schon glaube ich, er sei heil geblieben, als er in drei Teile zerfällt, von denen zwei im Waschbecken zu vielen kleinen Stücken zersplittern. Beim Versuch, das bereits Geschehene zu verhindern, einem unbewussten, dummen und viel zu trägen Reflex, habe ich mir das rechte Handgelenk aufgeschnitten.
    Ich sehe noch, dass hinter dem nicht mehr vorhandenen Spiegel kein Beobachtungsfenster, sondern Wand ist, ein helles Rechteck, eingefasst von einem hellgrauen Rand. Ich betrachte das Blut, das in Stößen aus der Wunde schwappt, und setze mich auf den Boden, seltsam erschöpft von der leichten Arbeit.
     
    Stufen aus Stein einen Berg hinauf. Näher zu Gott, seinem Gott. Er atmet schwer, ächzt, blökt. Möwen? Ja, kreischend im Blau des Himmels wie Schmierereien an einer Wand. Von da komme ich, dorthin will ich nicht zurück. Der Bus hält an, und ich steige aus. Auf dem hintersten Platz sitzt ein dicker Mann und winkt mir zu. Ich weiß, warum du hier bist. Auf meiner Wange klebt ein Heftpflaster, dabei ist es die Stirn, die schmerzt. Ich sehe über ein weites Feld, Schafherden wandern darüber hinweg, nein, es sind die Schatten der Wolken. Der Hund verfolgt einen Hasen, sein bewegtes Fell glitzert im Licht. Der Hase rennt über die Straße, erreicht die andere Seite, das rettende Ufer, ein Wunder. Der Hund darf auf Wunder nicht hoffen, die sind für heute verbraucht. Er weiß nichts von Autos, wird nie lernen, ihnen aus dem Weg zu gehen. Seinen eigenen Flug erlebt er nicht mehr. Auf der Plakette um seinen Hals steht sein Name, er heißt wie ich, die Telefonnummer erinnert mich an meine Geburtsdaten. Er wird im Himmel meine Mutter treffen. Sie öffnet die Kapsel an seinem Halsband und liest meinen Satz. Es tut mir leid, dass du meinetwegen gestorben bist.
     
    Wieder diese Stimmen. Ich kenne sie inzwischen, so fremd sind sie mir. Man berührt mich, geht mit mir um. Ich lese die Namen, das Chlor brennt in meinen Augen, ich

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