Nach Hause schwimmen
Boxen kam oder in seinen Gehörgängen entstand als Folge der lauten Ouvertüre.
Nach einem zwischen Bühne und Bankreihen hin und her fliegenden Begrüßungsritual hob der Reverend zu einer Predigt an, die über eine halbe Stunde dauerte und nur gelegentlich von bestätigenden Zwischenrufenund dem Echo des Riesen am Synthesizer unterbrochen wurde. Diese kurzen, effektvollen Pausen nutzte der Mann hinter der Kanzel, um sich mit einem blütenweißen Taschentuch den Schweiß von der Stirn zu tupfen oder ein paar Schritte im Kreis zu gehen und seine mal warnenden, mal drohenden und sparsam tröstenden Worte auf seine Zuhörerschaft wirken zu lassen.
Am vermeintlichen Ende seiner Predigt stimmte er ein weiteres Lied an, und alle außer Wilbur und den Kindern sangen mit. Die Frau mit dem Turban hatte sich das Mikrofon genommen, und nach mehreren Rückkoppelungen drang ihre leicht verzerrte Stimme aus den schwarzen Boxentürmen, deren Leistung ausgereicht hätte, um einen Flugzeughangar zu beschallen. Alle außer Carl, Donna, Millie und einer alten Frau, die man zwischen den Bankreihen im Rollstuhl geparkt hatte, standen, klatschten im Takt in die Hände und sangen oder bewegten zumindest die Lippen. Wilbur, verstört und aufgewühlt und halb taub, klatschte mit und versuchte, etwas vom Liedtext aufzuschnappen, verstand aber nur einzelne Worte wie Herr oder Vertrauen und Angst.
Zu Wilburs Überraschung baute sich der Mann im Maßanzug nach dem Lied erneut hinter der Kanzel auf und setzte seine Predigt fort. Immer wieder stellte er seinen Zuhörern Fragen, die diese mit lauten Ja- oder Neinrufen beantworteten. Wie ein Lehrer oder Quizmaster lobte er seine korrekten Schüler, sein untadeliges Publikum, schmückte die Antworten mit traurigen Schicksalen aus, mit feurigen Mahnungen und im grellen Licht der Gnade leuchtenden Versprechen auf ewiges Leben. Dann betupfte er seine glänzende Stirn und holte zu einer neuen Frage aus, untermalt von den Orgelklängen des Riesen, der schwitzte und mit dem Kopf wackelte und jedes sinnbefrachtete Wort und jede bedeutungsschwere Phrase wiederholte. Dazwischen blitzten die Rufe aus dem Saal auf, Amen, Gelobt sei der Herr, Halleluja, kleine Funken im Gewitter des Glaubens, das sich über Wilbur entlud.
Elwood, der ein paar Plätze neben Wilbur saß, schien zu schlafen. Vielleicht hatte er auch nur die Augen geschlossen, um andächtig zu lauschen. Wilbur machte die Augen ebenfalls zu. Er war müde, wünschte sich, er hätte mehr Kaffee getrunken und weniger gegessen. Das Summen in seinen Ohren war noch da. Der Prediger, ein Wahlkampfhelferin einer Hochburg Gottes, sprach von Verbrechen und Bestrafung, von Schuld und Buße, von Reue und Vergebung und der jedem Menschen gegebenen Macht, die Wendungen des eigenen Schicksals zu bestimmen. Wilbur trieb auf dem Floß dieser Stimme über ein Meer aus Schläfrigkeit und Zweifel, bis die Musik erneut alles Leben im Raum in einen Block aus Lärm goss und mit hämmernden Bässen und übersteuerten, klirrenden Höhen gegen seinen Kopf schlug.
Als er die Augen öffnete, waren die Leute um ihn herum wieder aufgestanden und klatschten ihren eigenen, beseelten Takt, während der Prediger in einem Nebenzimmer verschwand und die Kinder nach vorne gingen und sich im Chor versteckten wie in einer Baumgruppe. Die Frau vor Wilbur hob beide Arme, wodurch ihre zahllosen Armringe klimpernd zu den Ellbogen rutschten. Sie legte den Kopf in den Nacken, flatterte mit den Händen und trat von einem Fuß auf den anderen, ein bebender grüner Hügel, auf dessen Spitze Blumen wuchsen. Die Musik drehte sich in einer rasenden Schleife, einer endlosen Wiederholung, als probte das Orchester in sturem Wahnsinn die läppische Tonfolge einer Eröffnung, dann hob die Frau mit dem Turban das Mikrofon an die Lippen und sang.
Wilbur blieb sitzen. Auf die Gefahr hin, Leroy zu beleidigen, hätte er sich die Ohren zugestopft, wären Papiertaschentücher in seiner Jacke gewesen. Sein Kopf schien anzuschwellen, seine Gehörgänge fühlten sich wund an. Er malte sich ein Leben in Taubheit aus. Für einen Moment dachte er an den Kaugummi, der bestimmt unter den Sitzbänken klebte und sich zu Pfropfen formen ließe, während es den in Verzückung Schwankenden offenbar nicht laut genug sein konnte. Wilbur fragte sich, ob mit ihm etwas nicht stimmte, ob sein Trommelfell vielleicht so mickrig geraten war wie der Rest von ihm. Versunken im Schmerz, erwog er die Möglichkeit,
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