Nach Hause schwimmen
höre ich den Arzt etwas sagen, das mich auch weiterhin schweigen lässt.
»... und deshalb werde ich Sie in die Offene Abteilung verlegen.«
Ich sehe ihn an. Er lächelt. Ich und die beiden Pfleger sitzen auf dem Bett wie Brüder, denen der Vater eine Geschichte erzählt hat. Dass ich nackt bin, hatte ich vergessen, und jetzt, da es mir bewusst wird, beginne ich zu weinen. Ich will nicht weinen, aber ich habe plötzlich Mitleid mit mir, weil außer mir alle bekleidet sind. Ich sehne mich nach einer Hose und einem Hemd und heule mit gesenktem Kopf und sehe dabei meinen Penis, der über der Innenseite des Oberschenkels liegt wie eine Eidechse in der Sonne. Vermeer streicht mir über den Kopf und verspricht, dass alles gut wird, und beinahe glaube ich ihm.
In der Offenen Abteilung ließe es sich wahrscheinlich leben, wenn da nicht all diese Typen wären. Diese Wanderer und Herumhocker und Leser und Spieler und Glotzer mit ihren vom Leben gebeutelten Köpfen, ihrem Murmeln und Schweigen und Quatschen. Sitzen herum und warten, schiefe Töne in einem öden Lied. Reisende ohne Ziel in einem Bahnhof, aus dem die Züge längst abgefahren sind. Einer trägt den Arm in der Schlinge, ein anderer zieht das Bein nach, in einem Sessel döst einer mit Halskrause. Ich wünschte, ich hätte dem Arzt zugehört und wüsste wenigstens, wo ich hier bin, Krankenhaus, Klapsmühle oder Erholungsheim.
Der Bau ist schön, die Innenarchitektur streng und edel. Wo man hinsieht, erstreckt sich Parkett, abgelöst von hellem Teppich. Sonnenlicht fällt durch Glasdächer, in die Wände sind Aquarien eingelassen, bunte Fische schweben darin. Pfleger schlendern umher, immer zu zweit, adrett gekleidete Collegeboys auf dem Campus. Über allem liegt Ruhe und Bedächtigkeit, ein großes Atemholen, aber die Anhäufung sonderbarer Männer macht mich nervös.
Nach dem Mittagessen hat Vermeer mich in das Zimmer geführt wie der Page den Hotelgast. Zuvor war ich eingekleidet worden, sandfarbene Socken, die Hose einen Ton dunkler, blaues T-Shirt und moosgrünes Hemd, weiße Turnschuhe ohne Markenname, alles wie angegossen. Vermeer erläuterte mir kurz das Prinzip der Offenen Abteilung und zeigte mir mein Bett, das Bad, den Schrank, das Regal mit den Büchern und den Heften von National Geographic und den Bildbänden über Tie re, das Sonnensystem und die Wunder der Erde.
Dann hat er mir Melvin vorgestellt, meinen Zimmergenossen. Melvin ist etwa Mitte fünfzig, eine Stirnbreit größer als ich und übergewichtig. Sein Händedruck ist warm und feucht, seine Stimme klar wie das Wasser in den Aquarien. Mich stellte Vermeer als Will vor. Den Namen hatte ich ihm nach langem Zögern auf seinen Block gekritzelt. Er hatte das wohl als großen Fortschritt betrachtet und mich gerührt und glücklich angestrahlt.
Danach führte er mich herum. Er zeigte mir den Fernsehraum, wo nur Filme über Tiere, das Sonnensystem und die Wunder der Erde laufen, vermutlich weil Nachrichtensendungen, Talkshows und Spielfilmeeine verstörende Wirkung auf Menschen wie mich haben könnten. Wir sahen eine Weile drei Männern an einem Billardtisch zu und tranken grünen Tee, wobei ich meinen auslöffelte und Vermeer Anlass zu einer Notiz gab. Die Männer hatten ein eigenes, bescheuertes Spiel erfunden, bei dem leere Pappbecher, eine Untertasse und gestapelte Kekse wichtige Funktionen hatten.
Nach drei Partien von etwa zwei Minuten Länge, während derer die Männer die Kugeln von Hand über den Filz schoben, behutsam und mit der Konzentration von Uhrmachern, hatte ich keine Regeln ausmachen können, kein System, kein Muster. Ob es das Ziel des Spiels war, die Pappbecher umzustoßen, und ob es dabei eine Reihenfolge einzuhalten galt, blieb mir ein Rätsel. Warum die Männer zufrieden murmelten, wenn ihre Kugel wenige Zentimeter hinter einem Keksstapel zu liegen kam, aber aufstöhnten, wenn sie ihn berührte, erschloss sich mir nicht. Ob es galt, dem Unterteller einen Klang zu entlocken oder über möglichst viele Banden zu der leeren Zigarettenschachtel zurückzufinden, die in einer Ecke des Tisches vor dem Loch lag, war mir schleierhaft, und nichts war mir gleichgültiger. Trotzdem ließ ich die langsam rollende Kugel nicht aus den Augen, eingelullt von einem summenden Geräuschpegel, Vermeers melodischen Sätzen und den Medikamenten, die in meinem Körper schwappten.
Nachdem wir die leeren Teetassen in einen kleinen Fahrstuhl gestellt hatten, sind wir weitergegangen. Es gab noch
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