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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Weil er trotzdem da ist und sagt, ich soll es aufschreiben, wenn ich irgendetwas brauche oder wissen will. Und weil er nicht schnarcht und sein Bett nicht knarrt, obwohl er so dick ist.
    Die erste Nacht mit Melvin Rosenkranz im selben Raum war ziemlich merkwürdig, trotz der Faltwand zwischen unseren Betten. Ich fühlte mich gehemmt und ging auf Zehenspitzen zum Klo, um ihn nicht zu wecken. Als ich dalag und seinen Atem hörte und die ins Dunkel gemurmelten Sätze, die ich erst für ein Gebet hielt, musste ich an meinen Großvater denken, den ich manchmal gehört hatte, nachts, als Kind.
     
    Am Nachmittag fragt mich Melvin, woher ich komme. Er nimmt einen Bildband vom Regal, in dem eine Weltkarte abgebildet ist, und ich zögere absichtlich ein wenig und zeige dann mit dem Finger auf Irland, auf die oberste Spitze der Insel, hinter der nur noch Blau ist. Ein Paddy, sagtMelvin und kichert. Orla hat mir erzählt, ich sei in Amerika zur Welt gekommen, in Philadelphia, Pennsylvania. Aber das braucht Melvin nicht zu wissen. Auch nicht, dass ich mich trotzdem als Ire fühle, nicht als Amerikaner.
    Ich zeige ihm den Zettel, auf den ich meine Frage geschrieben habe: was ist das hier? Vermeer hatte mir nur gesagt, ich sei zur Beobachtung hier, man würde sich um mich kümmern, bis es mir besser ginge. Selbstverständlich wolle man mich nicht gegen meinen Willen festhalten, sagte er. Zuletzt fragte er, ob ich alles verstanden hätte, und freute sich, als ich nickte. Aber ich weiß noch immer nicht, in was für einem Laden ich eigentlich bin. Ich will Melvins Variante hören.
    Er setzt die Brille auf und liest, was auf dem Zettel steht. Dann kichert er wieder und lässt die Brille an der Kordel um den Hals baumeln.
    »Nennen wir es Sanatorium für Strauchelnde«, sagt er. »Oder Auffanglager für Untaugliche, Refugium für Lebensmüde, Biotop für Ausgeklinkte, such dir was aus. Du musst es dir als Stadt vorstellen, Will, eine Stadt, untergebracht in einem riesigen Gebäudekomplex. Ich weiß nicht, was du bis jetzt gesehen hast, aber es ist nur ein kleiner Teil davon. Es gibt zum Beispiel eine Krankenstation hier. Da warst du, nicht wahr?« Er deutet auf das Heftpflaster an meinem Handgelenk.
    Ich nicke. Wayne und Elroy bleiben an der Tür stehen. Tagsüber, zwischen neun Uhr morgens und sieben Uhr abends, müssen die Zimmertüren offenstehen, so will es die Vorschrift. Elroy hat sein Handtuch über die Schulter gelegt, als wolle er ein Bad nehmen. Ich scheuche sie mit einer Handbewegung fort.
    »Die Stadt hat ihr eigenes Energiezentrum, Solar- und Erdwärmeanlagen. Da drüben«, Melvin zeigt zur Wand hinter seinem Bett, »stehen Windturbinen auf einem Feld. In Gewächshäusern wird Gemüse angepflanzt, biologisch. Wer lange genug hier ist und Lust hat, kann da arbeiten. Oder in der Schreinerei. Ist aber alles freiwillig.« Melvin trinkt einen Schluck Malzbier. »Hier wird keiner zu irgendwas gezwungen. Nicht mal dazu, wieder ein funktionierender Teil der Gesellschaft zu werden. Falls er das jemals war.« Sein Kichern klingt, als ob in einer geschlossenen Scheune erfolglos versucht wird, den Motor eines Oldtimers zu starten.
    Roger kommt rein und legt einen neuen Band mit Zeitungsausschnitten auf den Boden vor meinem Bett. Ich gebe ihm den von gestern zurück, er presst ihn an die Brust.
    »Na, Roger, wie geht es dir heute?« fragt Melvin und nutzt die Unterbrechung, um sich ein neues Malzbier zu holen. Die Dosen stehen in seinem Schrank, mindestens zwanzig Stück auf Vorrat. Er hat mir gesagt, er wolle sie nicht im Gemeinschaftskühlschrank am Ende des Flurs aufbewahren, obwohl es dort für jeden Bewohner ein abschließbares Fach gibt. Er habe keine Lust, jede Viertelstunde den Gang runterzulatschen, um eine Dose zu holen, außerdem reagiere sein Magen empfindlich auf Kaltes.
    »Es muss noch vieles getan werden«, sagt Roger beim Gehen. »Vieles getan werden.« Seine Stimme ist monoton und kaum hörbar, eine Durchsage aus defekten Lautsprechern. Immerhin ist er nicht stumm, wie ich gedacht hatte.
    Melvin reißt die Dose auf und setzt sich wieder in den Sessel neben meinem Bett. »Wie du ja weißt, nennt sich unser beschauliches Viertel Offene Abteilung. Hier kommt jeder hin, der das Gröbste hinter sich hat.« Er sieht mich an, wie um zu prüfen, ob das auf mich zutrifft. »Natürlich gibt es Ausnahmen.« Er grinst und zwinkert mir zu, nimmt einen Schluck und unterdrückt ein Rülpsen, klopft sich mit der Faust an die Brust.

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