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Nach Hause schwimmen

Titel: Nach Hause schwimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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der meist mittelmäßig begabten Kinder herausragen zu lassen.
    Wilbur Sandberg würde die Grundschule in Portsalon zu Ende machen, das stand für seine Lehrerin fest. Mit zwölf würde er die Schule in Letterkenny besuchen, wie die übrigen seiner Klasse, die versetzt wurden. Welchen Weg er danach einschlagen sollte, lag nicht in ihrer Zuständigkeit. Es gab Schulen für Hochbegabte, aber ob Wilbur sich an einem Ort wohlfühlen würde, wo kopflastige Sonderlinge, weltfremde Streber und egozentrische Genies zur geistigen Elite geschmiedet wurden, bezweifelte sie. Sie betrachtete es als ihre Pflicht, ihm so viel Wissen mitzugeben, wie es der vorgegebene Unterrichtsplan erlaubte, aber mehr konnte sie nicht tun, obwohl ihr der Junge ans Herz gewachsen war.
    Vielleicht hätte sie etwas gegen Sean Finn und Niall McCoy unternommen,wenn ihr der Sportlehrer von den blauen Flecken an Wilburs Schienbeinen erzählt hätte. Aber Fintan Taggart sah weder in Blutergüssen noch Kratzern oder Fleischwunden etwas Schlimmes. Im Gegenteil. Für ihn waren sie Beweise körperlicher Aktivität, unvermeidbare Folgen eisernen Trainings und unzimperlichen Einsatzes, er betrachtete sie als Auszeichnungen, die man trug wie Orden.
    Eigentlich hätte Wilbur seinen Sportlehrer bewundern sollen. Fintan Taggart war ein harter Kerl. Er fuhr ein Rennrad und rannte im kalten Regen Berge hoch, an denen Spaziergänger außer Atem gerieten. Er konnte fluchen und mit einer dunklen Stimme brüllen, und Fotos bewiesen, dass er auf haushohen Wellen geritten war und Ziegelsteine mit der bloßen Hand entzweischlug. Die Jungen, die so werden wollten wie Taggart und auf dem besten Weg dazu waren, verehrten ihn. Wilbur hasste ihn. Fintan Taggart war der erste Mensch, den er töten wollte.
    Dabei hatte Wilbur nichts gegen Sport. Unvoreingenommen betrachtet, schien er eine praktikable Möglichkeit, den Körper zu formen. In seinem Fall hätte das geheißen, Muskeln zu bilden und das mickrige Gewicht aufzustocken. Bis Taggart in Portsalon aufkreuzte, war es Miss Ferguson gewesen, die ihrer Klasse ein wenig Bewegung verschaffte. Dazu war man entweder auf den Pausenhof oder in die Turnhalle gegangen, eine bessere Scheune aus Wellblech, deren Wände und Dach bei starkem Wind schepperten. Darin trabten die Kinder im Kreis oder machten Freiübungen, begleitet vom Tamburin, auf das die Lehrerin mehr oder weniger rhythmisch schlug. Bei den harmlosen Ballspielen konnte es zu keinen Körperkontakten und folglich zu keinen Grobheiten kommen. Miss Ferguson legte viel Wert auf die therapeutische Wirkung eines Spiels, Härte und Kampf waren ihr ein Greuel.
    Ihr Favorit war ein Spiel, das sie Klingelball nannte. Dabei saßen die Schüler mit verbundenen Augen auf dem Boden und warfen sich einen mit Glöckchen gefüllten Ball zu. Es gab keine Mannschaften, Ziel war es, den Ball in einen Blecheimer zu befördern, den Miss Ferguson immer wieder verschob. Wilbur mochte an dem Spiel vor allem den Umstand, dass niemand ihn sehen konnte, denn in Turnzeug gab er eine noch dünnere und unfertigere Figur ab als in Straßenkleidung. Und das Klingelgeräusch des Balls gefiel ihm. Er stellte sich einen verirrten Vogelvor, der zwitschernd durch ihre Reihen flatterte und dem man in sein Nest helfen musste.
    Das Ende der Turnstunde warf ihn jeweils schnell in die Realität zurück. Im Umkleideraum lachten die Jungs sich schief über seine bleichen Beinchen und Ärmchen und den handtuchbreiten Brustkorb, der hohl klang, wenn man dagegen stieß. Sie nannten ihn Alien und taten, als fürchteten sie sich vor ihm, nur um ihm gleich darauf einen schmerzhaften Knuff zu verpassen. Viele der Jungs waren Bauernsöhne, von der Arbeit auf dem Hof kräftig und derb. Ihre Haut war dunkel, und wenn sie prahlerisch und drohend die Arme anwinkelten, wuchsen kleine Muskelberge, die alle anfassen mussten. Neben diesen Kolossen fühlte Wilbur sich tatsächlich wie ein Außerirdischer. An Turntagen lag er abends im Bett und dachte sich eine Geschichte aus, in der er den Absturz eines UFOs überlebt hatte und jetzt unter den Menschen auf einem fremden Planeten ausharren musste. Man hatte wissenschaftliche Experimente mit ihm angestellt, doch war ihm die Flucht aus dem Labor gelungen. Er lag in der Dunkelheit, bewegte die Finger vor dem Gesicht und glaubte, sich an die Schläuche zu erinnern, die an ihn angeschlossen gewesen waren, und an die enge, gläserne Hülle des Raumschiffs.
     
    Die Lehrerschaft hatte sich

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