Nach Norden, Strolch
Pfiefer war ein dicker Mann mit Sinn für Humor, aber da seine Anwaltspraxis ihn ausschließlich mit sturen Menschen zusammenbrachte, mit Menschen, die nur einen für die Öffentlichkeit bestimmten Witz besaßen, der ihnen bei Versammlungen zugkräftige Parolen lieferte, so zeigte er nie jenen übersprudelnden Sinn für Späße, der hinter der rosa Maske seines Gesichts schlummerte.
In diesem Augenblick hätte er sein unordentliches Büro mit schallendem Gelächter füllen können, aber er behielt seine ernste Miene bei, denn der Mann, der auf der anderen Seite seines mit Bergen von Papieren, Gesetzbüchern und Akten beladenen Tisches saß, war eine gewichtige Persönlichkeit: der Friedensrichter und einflußreichste Farmer der Gegend.
»Versteh’ ich Sie richtig, Mr. Pfiefer«, die harte Stimme von Andrew Elmer war vor Besorgnis heiser, »ich kriege keinen Pfennig aus diesem Nachlaß, wenn Oktober nicht an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag verheiratet ist?«
Mr. Pfiefer nickte gravitätisch mit dem Kopf.
»So lautet das Testament.« Seine kurzen, dicken Finger glätteten das vor ihm liegende Dokument.
›Meinem Schwager zwanzigtausend Dollar und den Rest meines Vermögens meiner Tochter, Oktober Jones, auszahlbar bei ihrer Heirat, wenn diese vor oder an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag stattfindet.‹
Andrew Elmer kratzte sich unwillig den Kopf.
»Der Rechtsanwalt in Ogdensburg hat es so ausgelegt, daß ich auf alle Fälle zwanzigtausend Dollar erhalte, und wenn Oktober dann heiratet -«
»Wer ist denn für dieses eigenartige Dokument verantwortlich?« unterbrach ihn der Anwalt.
Andrew rutschte unbehaglich auf dem Stuhl herum.
»Tja - ich werde es wohl selber aufgesetzt haben. Meine Schwägerin Jenny hat mir sowieso ihre ganzen geschäftlichen Angelegenheiten überlassen.«
Er war ein dünner Mann mit hartem, eckigem Gesicht und der Gewohnheit, seine Lippen in lautlosen Selbstgesprächen zu bewegen. Gerade jetzt sprach er zu sich selbst, aber lautlos, wobei sich seine Oberlippe komisch auf und ab bewegte.
»Es war kein Anlaß, die Geschichte nachprüfen zu lassen«, sagte er schließlich. »Jennys Geld lag fest in Hypotheken, die jetzt erst fällig geworden sind. Der Bankpräsident in Ogdensburg meinte, ich sollte das Geld nicht anrühren, bis Oktober verheiratet wäre. Ich habe es mir jetzt anders ausgerechnet: Es ist sowieso nur der Rest, der sie etwas angeht …«
»Gibt es überhaupt einen Rest, Mr. Elmer?«
Der Ton des Anwalts war trocken - Elmer fand an sich nichts Beleidigendes in der Frage.
»Nein, nicht viel. Es ist ja klar, daß Oktober immer bei Mrs. Elmer und mir ein Heim finden wird. Das ist ein heiliges Gebot Gottes - Vaterlose zu schützen und so weiter. Sie hat uns viel Geld gekostet - ihr Studium, ihre Kleider, und die Hochzeit wird auch allerhand kosten. Aber damit hab’ ich gerechnet, als ich das Testament machte
Mr. Pfiefer seufzte tief. »Ihre Erbschaft, Mr. Elmer, ist fraglich, genau wie Oktobers Erbschaft fraglich ist. Wann soll denn die Hochzeit stattfinden?«
»Heute abend«, lächelte Mr. Elmer. »Das ist der Grund, weshalb ich heute zu Ihnen gekommen bin. Mrs. Elmer ist auf den Gedanken gekommen, man könnte auch zu sparsam sein. Für einen Dollar und so kann man die Sache richtig gesetzlich feststellen lassen, so daß einem nichts passieren kann. Wäre mir verdammt peinlich, wenn es Krach wegen des Testaments geben würde.«
»Sie heiratet Sam Water, nicht wahr?«
Mr. Elmer nickte. Seine Augen waren auf den Einspänner und das magere Pferd gerade vor dem Eingang gerichtet. Das Tier fraß gierig von einem Heuwagen, den man unvorsichtigerweise in seiner Reichweite hatte stehen lassen, was es nur erraffen konnte.
»Tja - Sam, netter Kerl.«
Hierüber dachte er eine Zeitlang schweigend nach.
»Bei Oktober ist eine Schraube locker - nein, nicht wegen Sam. Dickköpfig wie ein Maulesel ist sie. Manchmal wird sie wahnsinnig - jawohl, richtig wahnsinnig. Stellt sich auf den Brunnenrand und schreit: ›Rührt mich an, dann springe ich hinein‹ - wörtlich. Ich frage Sie, bin ich ihr Vormund oder nicht? Mrs. Elmer ist der Meinung, man sollte Oktober durchprügeln. Aber was soll man machen - sie spazierte einfach zum Brunnen und sagte das. Meiner Meinung nach ist Selbstmord die größte Sünde, die man überhaupt begehen kann. Aber so ist Oktober. Es gibt nichts, was sie nicht tut, aber es muß auf ihre Weise getan werden. Sam ist ein netter, kluger junger Mann. Sein Vater
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