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Nach Santiago - wohin sonst

Nach Santiago - wohin sonst

Titel: Nach Santiago - wohin sonst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Lindenthal
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Schlafplätze in Sahagún überhaupt schwierig zu finden sind.
    Die eineinhalb Stunden auf den Schotterband bis Bercianos sind dann noch eine mühsame Angelegenheit. Die untergehende Sonne knallt mir voll ins Gesicht, die Knie tun weh, der Rucksack drückt, Mund und Kehle sind staubtrocken, ich habe Durst.
    Das Refugio entpuppt sich — wieder einmal — als die Ruine der alten Dorfschule, diesmal sogar ohne Wasser und Strom, ein einziger Raum mit einer schmutzigen Matratze ist benutzbar. Macht nichts, Hauptsache, ich bin da. Das Wasser hole ich aus dem Dorfbrunnen, eine Bäuerin schenkt mir etwas Öl zum Ausbraten von Zwiebel und Knoblauch, meine Zwiebelsuppe schmeckt wunderbar.
    Warum „fliegen“ seit Tagen, eigentlich seit Burgos, Häuser, Dörfer, Kirchen, Wälder und Felder an mir vorüber, warum komme ich dem Bild des zu schnell Reisenden jetzt nahe? Natürlich, ich rase nicht, meine Gehgeschwindigkeit übersteigt nie sechs Stundenkilometer, aber das ist für einen Fußgänger doch sehr schnell. Beim Gehen habe ich mich heute und die letzten Tage nur auf das endlos scheinende Schotterband konzentriert, das wie das Laufband in einem Fitneßstudio vor mir abrollte. Ich schaute kaum nach links oder rechts, ich ging nur. Mache ich vielleicht gerade eine Pilger-Sinnkrise durch?
    Viel Zeit zum Nachdenken habe ich nicht, die 51 Kilometer von heute verlangen heftig ihren Tribut, und mein Körper leistet nicht lange Widerstand. Binnen Sekunden schlafe ich wie ein Stein.

    Karsamstag, 15. April Bercianos — León

Frauen

    Beim Zähneputzen am Dorfbrunnen denke ich noch einmal über meine Kilometerfresserei in den letzten Tagen nach. Und ich komme zum beruhigenden Ergebnis, daß es keine Pilger-Sinnkrise ist, die ich gerade durchlebe, sondern daß sich einfach mit der schweren Krankheit von Ajiz, dem langen „Herumhängen“ in Puente la Reina und schließlich dem endgültigen Ausfall meines treuen Gefährten für meine Pilgerfahrt viel geändert hat. Wäre es eine Sinnkrise, würde ich ans Aufgeben denken — das kommt gar nicht in Frage! — oder Etappen mit Zug oder Bus abkürzen, um schneller ans Ziel zu gelangen. Auch das kommt nicht in Frage. Was hat sich dann geändert?
    Bis Puente la Reina habe ich den Weg genossen, ich habe auf ihm gelebt, gerne gelebt. Santiago, das Ziel, war eigentlich nur der Grund, der Vorwand, wenn man so will, um dieses Pilger- und Zigeunerleben zu führen. Jedoch seitdem ich ohne Ajiz unterwegs bin, sind der Weg und das Leben auf ihm, mit all den Begegnungen, nicht mehr vorrangig, es ist das Ziel, Santiago, das für mich immer wichtiger wird, während der Weg das Mittel zum Zweck wird. Wenn ich mir nicht vorgenommen hätte, nach Santiago zu gehen, hätte ich schon lange abgebrochen. Aber jetzt will ich endlich ankommen!
    Irgendwie beruhigt mich diese Erkenntnis, und ich habe kein schlechtes Gewissen, als ich von Bercianos wieder zurück zum Pilger-Schotterband gehe und es schnellen Schrittes unter meinen Füßen abrolle.
    Nach etwa einer Stunde — der Morgen ist kühl und frisch — erblicke ich weit vor mir, wirklich weit, denn nichts außer der natürlichen Erdkrümmung hält den Blick in der Meseta auf, eine Gruppe von Menschen, die in die gleiche Richtung gehen, höchstwahrscheinlich Pilger. Ich nehme mir vor, sie einzuholen, um etwas Abwechslung in den öden Trott am Schotterband zu bringen, der Hatscherei einen Sinn zu geben, und sei es auch nur den des Wettbewerbs — obwohl die Betroffenen davon natürlich gar nichts wissen. Ich hol’ sie auch ein, aber es dauert eine ganze Weile. Sie tragen nur kleine Tagesrucksäcke, ich vermute, es sind „Teil-Pilger“. Und tatsächlich, sie gehören zu einer 50-köpfigen Reisegruppe aus San Sebastian, die mit einem Begleitbus auf dem Jakobsweg unterwegs sind. Je nach Laune und/oder Kondition können sie Teilstücke des Weges zu Fuß zurücklegen, an vereinbarten Treffpunkten holt sie der Bus wieder ab. Mittag- und Abendessen sowie Übernachtung sind organisiert, ihr Hauptgepäck reist im Bus mit. Meine Weggefährten bis Mansilla de las Mulas, wo schon das Mittagessen auf sie wartet — es kommt meinerseits kein Neid auf! — sind ausgesprochen nette Basken, vor allem sind auch zwei hübsche Frauen dabei. Auch deshalb verlangsame ich mein Tempo und beschließe, bis Mansilla in ihrer Begleitung zu gehen.
    Die Zeit bis Mansilla vergeht wie im Flug, den monotonen und häßlichen Schotterweg nehme ich gar nicht wahr, ich genieße die

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