Nach Santiago - wohin sonst
einlegen, was ich so schnell nach dem Start in der Früh eigentlich nie mache? Ich beschließe, diesem absurden Wettlauf ein Ende zu bereiten, indem ich meinerseits etwas schneller als normal gehe, um so zum „Kampfpilger“ aufzuschließen. An seiner Seite angelangt begrüße ich ihn, wir wechseln einige Worte miteinander, gehen ein Stück gemeinsam. Er kommt aus Deutschland, hat in Castrojeriz im Hotel übernachtet, weil ihm die Refugios zu schmutzig sind, und ist erst seit ein paar Tagen unterwegs. Was würde er erst über das Dreckloch von Monreal erzählen, wenn ihm die für mich doch eher ordentlichen Refugios schon zu dreckig sind? Die Diskussion über den „wahren“ Pilger, die mein und der Brasilianer Gemüt so erhitzt hat, fällt mir wieder ein, aber ich habe keine Lust, mit ihm — obwohl er Pilger ist, bleibt er mir fremd — länger zu reden. Zwischen uns kommt es nicht zum „Funkensprung“, wir sind zu verschieden, außerdem sind wir beide, das haben wir zumindest gemeinsam, Individualisten, haben einen unterschiedlichen Rhythmus und offensichtlich auch einen anderen Zugang zum Jakobsweg. Nach einer Weile bleibt er hinter mir zurück, jeder geht weiter seines Weges. Nicht tragisch.
Jetzt bin ich mitten in Kastilien — karge Hochflächen, ewige Weizenfelder, fast keine Bäume, geschweige denn Wald. Schnurgerade, staubige Wege und ein scharfer, äußerst unangenehmer Nordwind. Die Pilgerquelle „Fuente de piojos“ (Läusequelle — warum wohl?) bleibt hinter mir, auch die von Alfons VI. im 11. Jahrhundert gestiftete Brücke Puente Fitero wird ein Opfer meiner rasch ausschreitenden Füße, der berühmten gotischen Gerichtssäule („Rollo“) von Boadilla del Camino schenke ich ebenfalls — im Vorbeigehen — nur einen kurzen Blick. Zu sehr zieht es mich weiter.
Für die Mittagspause finde ich Gott sei Dank einen der wenigen schattigen Plätze auf der Strecke: einige Bäume am Ufer des großen kastilischen Kanals, der wichtigsten Bewässerungsader der Region.
Am Nachmittag hole ich Tomeo ein, er dürfte, während ich im Schatten meine Siesta genoß, an mir vorübergezogen sein. Bis Fromista gehen wir gemeinsam. Er bleibt im Refugio, mit seinen kranken Beinen muß er sich ja noch schonen. Ich möchte heute noch bis Villalcazar de Sirga kommen, deshalb halte ich mich auch nicht lange im Ort auf, obwohl sein Prunkstück, die Kirche San Martín, sehr wohl Beachtung verdienen würde. Sie wurde 1066 von Navarras Königin Doña Mayor gestiftet, die auch die Brücke in Puente la Reina hatte erbauen lassen. Die ehemalige Klosterkirche wirkt im Vergleich zu anderen Bauten der frühen Romanik viel leichter, heller und freundlicher.
Ab Frómista komme ich zum ersten Mal in den Genuß einer Novität des spanischen Jakobsweges: Ein eigens für die Pilger angelegter Schotterweg parallel zur Straße, die ja dem historischen Pilgerweg entspricht. Man hatscht also nicht mehr direkt am Straßenrand, wegen des dichten Verkehrs unter Dauerstreß — ich betone: echter Streß! — , sondern auf einem staubigen, schnurgeraden Schotterweg. Eine große Erleichterung, aber man tauscht Gefahr und Streß gegen unendliche Langeweile ein. Ich verstehe, daß es Pilger gibt, die sich dieses Wegstück ersparen, indem sie mit dem Bus oder per Anhalter fahren. Kommt für mich natürlich nicht in Frage. Der Wind, der Staub und die Langeweile sind zwar alles andere als angenehm, aber Meseta ist Meseta, sie gehört einfach zum Jakobsweg dazu. Außerdem habe ich wirklich schon Schlimmeres hinter mir.
Schon am späten Nachmittag komme ich nach Villalcazar, da war ich anscheinend gut unterwegs, schließlich waren es heute 37 Kilometer. Nachdem auch die Tage immer länger werden, habe ich einen schönen, langen Abend vor mir, den ich zum Ausruhen, Duschen, Besichtigen, Lesen und Tagebuch-Schreiben zu nutzen gedenke.
Das Refugio ist klein, relativ sauber, gemütlich — und leer. Kein Mensch außer mir hat die Tagesetappe nach Fromista noch verlängert. Wieder einmal macht es sich bezahlt, aus den „normalen“, von den Wegführern vorgeschlagenen Etappen rauszuspringen und ein Stück weiter zu gehen. Der Preis für die zusätzliche Anstrengung ist dann ein leeres oder fast leeres Refugio und damit eine ruhige Nacht ohne Schnarchkonzert.
Die „Virgen Blanca“, die Weiße Muttergottes von Villalcazar, war im Mittelalter drauf und dran, dem Apostel Jakobus den Rang als wichtigste Pilgerstätte abzulaufen. Besonders seitdem die
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