Nach Santiago - wohin sonst
Berichte von Wundern an ihrem Bild zunahmen und Kartäuser und Zisterzienser dem Marienkult einen immer wichtigeren Platz einräumten, begann vor allem das einfache Volk mehr und mehr seine Zuflucht und sein Heil bei der Gottesmutter zu suchen. Die beeindruckende, strenge gotische Kirche Sta. María aus dem 13. Jahrhundert soll vom Orden der Tempelritter errichtet worden sein.
Ich freu’ mich schon auf das Abendessen — heute will ich zur Feier des Tages ins Gasthaus gehen — , denn der Wirt des weithin berühmten Restaurants „El Mesón“, selbst oft als Jakobspilger gekleidet, soll jeden (Fuß-)Pilger zu einem einfachen Abendessen einladen, egal wie viele Gäste er sonst noch hat.
Doch ich habe mich zu früh gefreut, ich gehe nämlich zum falschen Wirtshaus, das zudem geschlossen ist. In das andere, offene, vollbesetzte — es wäre das richtige gewesen — trau’ ich mich nicht hinein. (Einen Rest Schüchternheit habe ich mir also doch noch bewahrt!) Macht nichts, dann koch’ ich halt wieder meine geliebte Pilgersuppe.
In der Zwischenzeit sind doch noch Pilger im Refugio eingetroffen, drei Katalanen aus Barcelona. Auch sie sind heute früh von Castrojeriz aufgebrochen. Wir essen gemeinsam zu Abend und gehen alle früh schlafen. Vielleicht habe ich irgendwann wieder eine Chance, beim Wirt vom „El Mesón“ vorbeizuschauen...
Karfreitag, 14. April Villalcazar — Bercianos
„La solitude, fidèle compagne“
Ein langer, einsamer Tag. Aber ich fühle mich wohl. Es gelingt mir, früher als gewöhnlich aufzustehen, knapp nach Sonnenaufgang stehe ich schon abmarschbereit auf dem Platz vor der strengen Templerkirche von Villalcazar. Ein letzter bedauernder Blick auf den „Mesón del Templero“, wo mir ein gutes Abendessen entgangen ist. Und hinein geht es in die Kühle des Morgens. Es ist dies die schönste Zeit zum Gehen. Der Körper — vor allem die Füße — ist ausgeruht, die Temperatur — acht bis zehn Grad — ist zum Wandern geradezu ideal, weit und breit ist kein Mensch zu sehen, und vor mir liegt, ausgebreitet wie ein überdimensionaler Teppich, die einsame kastilische Landschaft, in die mich jetzt meine Füße hineintragen. Ein ähnliches Gefühl habe ich, wenn ich von der frischen Morgenluft vorsichtig in das kalte Wasser eines Sees gleite und mit den ersten Schwimmbewegungen in die spiegelglatte Oberfläche des dunklen und ruhigen Wassers die ersten kreisförmigen Wellen zaubere.
Der Weg verläuft — Gott sei Dank! — bis Carrión de los Condes abseits der Straße. Für mehrere Kilometer ist der einzige Baum auf dieser leeren Fläche — er ist sogar in den Führern erwähnt! — der alleinige Orientierungspunkt. Es ist interessant, ihn am Horizont auftauchen zu sehen, zuerst die Krone, wie der Mast eines Segelschiffes auf offenem Meer, und schließlich den ganzen Baum. Die Erde ist also doch rund! Ich kann mir gut vorstellen, wie ein müder und durstiger Pilger auf der Suche nach Schatten verzweifelt, wenn der Baum unendlich lange braucht, um näherzukommen. Mein Problem ist das nicht, die Mittagspause ist erst nach Carrión de los Condes geplant, dort gibt es wieder mehr schattenspendende Vegetation — aber auch ganz schön viele Pilger und vor allem einige Kilometer auf der Straße — gerade richtig für einen Karfreitag.
Mit einem doch etwas höheren Tempo — schließlich habe ich schon 1200 Trainingskilometer hinter mir — hole ich die Pilger, die anscheinend von Carrion aufgebrochen sind, einen nach dem anderen ein. Es sind so viele, daß ich ungefähr nach dem fünfzehnten das Grüßen einstelle. Viele nutzen offensichtlich die Karwoche für einige Kilometer auf dem Jakobsweg.
Nach der Mittagsrast beginnt die heiße, trockene, eintönige Tageshälfte, die Kilometer werden länger. Dennoch widerstehe ich der Versuchung, die Etappe in Sahagún zu beschließen, und hatsche noch neun Kilometer weiter bis Bercianos del Real Camino. Immerhin war Sahagún eine wichtige Stadt auf dem Jakobsweg, schon im 9. Jahrhundert stand hier ein wichtiges Kloster, und seit 1079 war es eine der bedeutendsten Niederlassungen der Cluniazenser in Spanien. Auch die berühmte Kirche „La Peregrina“ (13. Jahrhundert), in der die Madonna als Pilgerin dargestellt ist, muß auf meinen Besuch verzichten. Die Entscheidung, nicht in Sahagún zu bleiben, stellt sich als richtig heraus — war es mein geschärfter Pilgerinstinkt? — , denn später erfahre ich, daß das Refugio dort geschlossen ist und
Weitere Kostenlose Bücher