Nach Santiago - wohin sonst
vordringenden, unbarmherzigen Wind. So wird jedenfalls berichtet, bestätigen kann ich weder das eine noch das andere, denn ich finde heute geradezu ideale Bedingungen vor. Meine Füße finden den Weg von alleine, mein Kopf ist frei zum Nachdenken, Träumen, Fliegen... Das Gehen wird zur Meditation, so stark wie bisher noch nie.
Am frühen Nachmittag hole ich drei Pilgerinnen ein, die gerade Rast machen. Es sind „meine Gringas“, denen ich in Puente la Reina Stöcke geschnitten habe! Sie sitzen auf Steinen in der prallen Sonne und essen ein paar Orangen. Keine ordentliche Jause, kein schattiger Platz zum Ausruhen — den einen oder anderen kleinen Baum findet man auch auf der Meseta, wenn man danach sucht — und natürlich keine Siesta. Kein Wunder, daß sie so mühsam und schleppend vorankommen. Aber es ist bewundernswert, wie sie trotz aller Probleme — Blasen, Muskelkater, Sonnenstich, wundgeriebene Schultern — an ihrem Ziel, Santiago, festhalten. Sie werden es sicher schaffen.
Ich begleite sie, bis ich einen Strauch finde, der mir etwas Schatten und Windschutz bietet, und zelebriere meine schon zur lieben Gewohnheit gewordene Mittagsrast. Am späten Nachmittag, ein paar Kilometer vor Castrojeriz, meinem Tagesziel, hole ich Kate, eines der Mädchen, wieder ein. Sie kann sich kaum mehr auf den Beinen halten, schleppt sich eigentlich nur mehr vorwärts, aber mein Angebot, ihren Rucksack bis zum Refugio zu tragen, wird beinahe empört zurückgewiesen.
Noch bevor ich das Refugio aufsuche, statte ich der Pfarrkirche Santo Domingo (15. Jahrhundert) einen Besuch ab. Im Mittelalter war das Dorf eine wichtige Pilgerstation und besaß zeitweise sieben (!) Klosterhospize. Heute gibt es noch drei Kirchen und ein kleines, aber sauberes Refugio im Ort. Am Ausgang der Pfarrkirche stehen zwei junge Männer, gekleidet in Shorts und T-Shirts, und betteln schweigend. Eigenartig.
Im Refugio gibt es ein Wiedersehen mit Tomeo aus Mallorca — die Überraschung ist groß, denn ich hatte ihn schon weit vor mir vermutet. Aber er erzählt mir, daß auch er eine Zwangspause einlegen mußte. Er hatte Durchfall bekommen, dadurch zuviel Flüssigkeit verloren und in der Folge nicht genügend getrunken, um den Flüssigkeitsverlust auszugleichen. Die daraus resultierende Dehydrierung bescherte ihm Ödeme an beiden Unterschenkeln, begleitet von hohem Fieber. Ein Arzt in einem der Dörfer am Weg hatte ihn gratis behandelt und ihm zwei absolute Ruhetage verschrieben — Aufgeben oder Umkehren kam für ihn natürlich überhaupt nicht in Frage. Nun ist Tomeo wieder unterwegs, mit dick bandagierten Unterschenkeln und vorerst kürzeren Tagesetappen, aber unbeirrt und voller Optimismus. Von Tomeo erfahre ich auch, daß die junge Deutsche, die mir schon in Belorado aufgefallen war, schließlich in Burgos aufgegeben hat. Sie war in Tränen aufgelöst im Refugio von Burgos eingetroffen und hatte den ganzen Abend nicht zu weinen aufgehört. Also haben sie ihre Probleme doch eingeholt. Was mich nicht überrascht, denn wenn ich vor etwas mit Sicherheit nicht davonlaufen kann, dann vor mir selbst.
Mir geht es sehr gut. Ajiz fehlt mir zwar sehr, aber ich weiß ihn in guten Händen und bin glücklich, wieder Teil des Camino zu sein. Am Abend klärt sich noch das Geheimnis der beiden jungen Bettler am Tor der Pfarrkirche Santo Domingo. Es sind zwei junge Polen, die schon seit Monaten auf Pilgerfahrt nach Santiago sind, kaum ein Wort Spanisch sprechen und beschlossen haben, ausschließlich von den Gaben mildtätiger Menschen zu leben.
Erstaunlich, wer alles auf dem Jakobsweg unterwegs ist!
Donnerstag, 13. April Castrojeriz — Villalcazar
La Meseta
Ich komme früh weg, es ist ein wunderschöner, kühler Frühlingsmorgen. Nach der Überquerung einer alten Römerbrücke, wo sich der Weg wieder hinauf auf die Ebene schlängelt, stelle ich fest, daß jemand noch früher als ich aufgebrochen ist. Einige hundert Meter vor mir sehe ich einen Pilger, der ebenfalls recht kräftig ausschreitet. Langsam komme ich ihm näher, doch dann bleibt der Abstand zwischen uns gleich, obwohl ich sicher nicht langsamer geworden bin. Das kann also nur heißen, daß er mich hinter sich bemerkt und seinen Schritt beschleunigt hat, damit ich ihn nicht überhole. Das kenn’ ich doch von der Autobahn! Aber hier, am Jakobsweg, bin ich doch etwas überrascht. Was soll ich jetzt tun? Soll ich einem ehrgeizigen Pilger zuliebe langsamer gehen als gewohnt, oder gar eine Pause
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