Nach Santiago - wohin sonst
irgendwo in der Einsamkeit einen Unfall habe oder schwer krank werde? Ich hoffe, mein Schutzengel begleitet mich nach Santiago!
Dienstag, 28. Feber St. Jean — Lunas
Der Gute Geist des Weges
Heute ist es noch schöner als am Vortag! Der kalte Wind hat sich gelegt, die Sonne hat für diese Jahreszeit erstaunlich viel Kraft, und das Gehen ist eine reine Freude.
Etwa eine halbe Gehstunde von St. Jean de la Blaquière entfernt erreiche ich Usclas du Bose, ein winziges Dorf mit etwa 30 Einwohnern. Abgesehen davon, daß es sehr malerisch ist, wie alle Dörfer in der Gegend, wäre es keiner besonderen Erwähnung wert, hätte man nicht auf seinem Friedhof eine große Anzahl von diskoidalen Stelen gefunden. Es sind dies aus einem Stein gehauene Grabsteine in der Form einer Scheibe auf einer Säule, die mit einem gleichschenkeligen Kreuz (griechisch, keltisch?) und anderen Verzierungen versehen ist. Ihr Ursprung ist nicht zur Gänze geklärt, wird aber entweder im Orient (Sonnenkult) oder bei den Gallo-Romanen, also Kelten, vermutet. Man findet sie in ganz Europa, in besonderer Häufung aber auf den britischen Inseln und in Südwestfrankreich (Languedoc-Roussillon) und auf der iberischen Halbinsel — und das ist faszinierend — entlang von alten Pilgerwegen, die entweder zu lokalen und regionalen Wallfahrtsorten (oft vorchristliche Kultstätten), meistens aber nach Santiago de Compostela führen! Für mich ein eindeutiger Hinweis auf den vorchristlichen — keltischen? — Ursprung des Jakobsweges. Die Steine befinden sich oft auf Pilgergräbern, und das in Friedhöfen, die bei Kirchen, Klöstern, Hospizen oder Niederlassungen von Ritterorden wie den Templern oder den Johannitern liegen, die in einem direkten Zusammenhang mit dem Jakobsweg stehen. Das ist bei Usclas du Bose eindeutig der Fall. Es befand sich dort im Mittelalter ein Pilgerhospiz mit angeschlossenem Pilgerfriedhof der Malteser, dem Nachfolgeorden der Johanniter. Heute noch werden die Bewohner von Usclas du Bose in der Gegend „Les Pélerins — Die Pilger“ genannt.
Ich komme heute sehr gut voran, ärgere mich jedoch wieder einmal über die schlampige Markierung. Dafür finde ich einen viel kürzeren und schöneren Weg in einem stillen Tal bis Lunas, meinem Etappenziel. Am Ortsrand schlage ich in einem brachliegenden Feld mein Biwakzelt auf. Seit sechs Tagen schleppe ich es mit mir herum, jetzt soll es mir endlich auch seine Dienste leisten. Schleppen ist übertrieben, es wiegt höchstens 400 Gramm, hat dafür aber keinen Boden. Halt ein Dach über dem Kopf.
Das Haus, zu dem das Feld gehört, ist allem Anschein nach unbewohnt, jedenfalls sind alle Fäden geschlossen. Ich kann also niemanden um Erlaubnis bitten, hier übernachten zu dürfen. Doch kaum steht das Zelt, kommt eine Frau aufs Feld und begrüßt mich freundlich, aber auch neugierig. Ich stelle mich als Pilger auf dem Weg nach Santiago vor und entschuldige mich für den Mißbrauch ihres Grundstücks als Campingplatz. Sie ist aber alles andere als böse, interessiert sich sehr für meine Pilgerreise und ist ganz begeistert von Ajiz. Sie lädt mich ins Haus ein, und ich esse mit ihr und ihrem Mann zu Abend. Der Abend vergeht bei angeregten Gesprächen, die sich hauptsächlich um den Jakobsweg, seinen Ursprung und seine wieder entflammende Faszination auf die Menschen drehen. Die Nacht im Zelt ist saukalt, und ich bin mir ziemlich sicher, daß ich das Biwakzelt nach Möglichkeit im Rucksack lassen und wirklich nur in Notfällen verwenden werde. — Wenn ich es nicht schon aufgestellt hätte, wäre für mich ein Bett im Haus bereitgestanden.
Wenn das mit der Gastfreundschaft einem Pilger und seinem Hund gegenüber so weitergeht, kann ich den nächsten Wochen guten Mutes entgegensehen! Ich habe ein unwahrscheinlich gutes und sicheres Gefühl, ich würde sagen, schon seit meinem Aufbruch von Arles begleitet mich nicht nur mein treuer Ajiz, sondern auch der „Gute Geist von Santiago“ — so nenne ich ihn ab heute — auf meinem Weg.
Aschermittwoch, 1. März Lunas — St. Eutrope
Nacht auf dem Berg
Nach dem Abbrechen und Verstauen des Zeltes wartet schon ein ausgiebiges Frühstück bei meinen Gastgebern auf mich — und eine Schüssel Milch auf Ajiz. Die angeregte Unterhaltung vom Vorabend wird fortgesetzt, mein Aufbruch erfolgt später als geplant. Aber ich habe ja keinen Termin, stehe nicht unter Zeitdruck und bin auch nicht auf der Flucht. Es wäre absurd, würde ich solche schönen
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