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Nach Santiago - wohin sonst

Nach Santiago - wohin sonst

Titel: Nach Santiago - wohin sonst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Lindenthal
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Begegnungen nicht auskosten, nur weil ich den vom „normalen“ Leben gewohnten Zeitdruck auf meine Pilgerfahrt übertrage und glaube, ein bestimmtes Ziel zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt erreichen zu müssen.
    So gegen 10 Uhr breche ich dann doch auf, versehen mit den besten Wünschen für den Weg nach Santiago. Mein Ziel ist heute St. Gervais sur Mare, ein kleines, malerisches Dorf in den Ausläufern der Cevennen.
    Der Weg verläuft nicht auf der historischen Route im Tal, dem Vallée d’Orb, sondern auf Forststraßen über bis oben dichtbewaldete Berge. Das Tal ist durch den Abbau von Kohle ziemlich zerstört und der Weg zur Straße geworden, was für Frankreich nicht selten ist. Und logisch, denn die Jakobswege wurden erst in den letzten Jahren wiederentdeckt, nachdem Jahrhunderte des Fortschritts das Antlitz der Landschaft schon nachhaltig verändert hatten. In diesem Fall kann man wirklich von Nachhaltigkeit sprechen!
    Das Wachstum der Städte und Dörfer, das Entstehen von Industriezonen, der Bau von Straßen und Autobahnen, Grundzusammenlegungen und neue Flächenwidmungspläne haben zur Folge, daß uralte Wege heute vor einem Stacheldraht, einer Mauer, am Rande eines Steinbruchs oder an einer Autobahn enden. Das gefällt mir zwar nicht, aber ich muß es akzeptieren. Die Folge ist, daß die „Jakobswege“ heute oft „nur“ Rekonstruktionen sind, welche die noch erhaltenen Kirchen oder Kapellen miteinander verbinden. Für mich vollkommen legitim und auch kein Problem, denn jeder Weg, den ein Pilger nach Santiago beschreitet, wird durch dieses Ziel zu einem Jakobsweg.
    Und das Wandern auf diesem „Ersatzweg“ ist heute wunderschön. Das Wetter ist traumhaft, die Landschaft atemberaubend. Den ganzen Tag über begegne ich keinem einzigen Menschen, das Gehen hat von mir Besitz ergriffen. Ajiz leidet etwas unter der Hitze, aber glücklicherweise stoßen wir hin und wieder auf eine kleine Quelle, an der er sich ausgiebig laben kann. Und zur Not habe ich ja noch meine zweite Feldflasche, immer mit Wasser gefüllt. — In der anderen befindet sich ein anständiger südfranzösischer Landwein für die so wichtige und auch immer angemessen zelebrierte Mittagspause und für das Abendessen. In den Dörfern am Weg wird sie auch immer fleißig aufgefüllt.
    Früher als erwartet treffe ich in St. Gervais ein, trotz des späten Aufbruchs. Und weil es so gut läuft, beschließe ich, die noch ca. 1 ½ Stunden bis zur Einsiedelei von St. Eutrope anzuhängen. Laut Führer gibt es dort eine Biwakmöglichkeit und auch eine Quelle. Proviant habe ich genügend im Rucksack, mit Trinkwasser und einem Dach über dem Kopf ist meine „Vollpension“ komplett!
    Die Einsiedelei (14. Jahrhundert) liegt etwa 250 steile und anstrengende — besonders am Ende eines langen Tages — Höhenmeter über dem Tal, inmitten einer einsamen, wilden Felslandschaft. Auf den letzten 50 Höhenmetern, knapp unterhalb der Waldgrenze, lade ich mir noch so viel Brennholz auf, wie ich gerade noch tragen kann, damit ich mir im Kamin des Gîte (Unterstand, Biwak) ein kleines Feuer machen kann, die Nacht verspricht sehr kalt zu werden. Oben sind wir beide ziemlich fertig, aber ich finde alles so vor, wie ich gehofft habe: Das Gîte neben der Kapelle ist offen, die Quelle führt Wasser. An so einem einsamen Platz habe ich noch nie übernachtet, aber er gefällt mir — zumindest für eine Nacht. Hier ein Eremitendasein zu führen, wäre sicher nicht meine Sache. Ich mache Feuer im Kamin, füttere Ajiz und nütze das letzte Tageslicht, um Buchszweige für eine „grüne“ Matratze zu schneiden, mit der ich die harten Holzbretter meines Nachtlagers etwas abfedern will. Die Nacht bricht schnell herein, ich esse bei Kerzenlicht und lege mich dann gleich schlafen. Das heißt, ich versuche zu schlafen. Der harte Bretterboden — die Buchszweige helfen nicht viel — läßt jede Schlafposition binnen Minuten zur Qual werden. Der Rücken schmerzt, und zu allem Überdruß werde ich lange von Angstvorstellungen gepeinigt. Draußen heult der Wind so wild und rüttelt so heftig an der Hütte, daß in mir der Gedanke zur Gewißheit wird, daß am nächsten Morgen ein Wintereinbruch den Abstieg ins Tal unmöglich machen wird. Der steile und exponierte Pfad wird so naß und rutschig sein, daß er unpassierbar wird, und ein Windstoß wird Ajiz mit seinen Satteltaschen erfassen und in die Tiefe reißen. Irgendwann schlafe ich dann doch ein. Meine erste Krise, vermerke ich

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