Nach Santiago - wohin sonst
vielleicht finden sie sogar etwas. Ich stelle mir den Weg als einen „Korridor“ mit einer ganz eigenen Kultur vor. Auch als einen Korridor, über den Kultur transportiert und ausgetauscht wird, Ideen, Ideale, Projekte und Erfahrungen — auch das schon seit über 1000 Jahren. Warum gibt es wieder immer mehr Leute, die den Jakobsweg „machen“? Warum sagen so viele meiner Freunde neidvoll, sie würden mich so gerne begleiten, wenn nicht... (die Gründe sind vielfältig und bekannt)? Es kann sein, daß ich mich da jetzt in etwas hineinsteigere, aber tant pis, in zwei Monaten werde ich es besser wissen. Ich habe nun einmal das Gefühl, daß ein besonderer Geist über diesem Weg liegt, ein Geist, der Produkt und Ausdruck all dieser Suchenden ist, der durch andere Wertigkeiten definiert wird und der im kleinen widerspiegelt, wie das Große — die Welt — sein könnte bzw. sollte. Der Jakobsweg als Korridor des Friedens...
Ich kann mir gut vorstellen, daß manche Jakobspilger sich in diesem Korridor so wohlfühlen, daß sie beschließen, ihn nicht mehr zu verlassen.
Der Tag ist jedenfalls traumhaft. In der Provence beginnt der Frühling schon im Feber, die Camargue zeigt sich von ihrer schönsten Seite. Die Basilika von St. Gilles ist beeindruckend, wir legen auf den Stufen, die zum romanischen Tympanon hinaufführen, eine Rast ein. Ich beschließe, später mit dem Auto wiederzukommen, um Arles und St. Gilles noch genauer kennenzulernen.
Für die Mittagsrast finden wir einen schönen Platz im Gras, im Schatten eines Baumes, und es wird kräftig gejausnet. Brot, Käse, Wurst, Rotwein, Obst. Jean überrascht mich mit einem Digestif aus seinem Flachmann, einem Whisky. Ist das unpilgerlich? Nach kurzer Diskussion beschließen wir einmütig, daß man das nicht so eng sehen darf.
Ab St. Gilles werden die Blasen an Jeans Füßen immer größer, bis er vor Schmerzen nicht mehr weiterkann. Seine Füße sind nicht trainiert, aber vor allem hat er Schuhe, die für lange Strecken denkbar ungeeignet sind. Seine Füße sind eigentlich nur mehr eine einzige riesige Blase. Etwa zwei Stunden vor Vauvert — er hat sich die letzten Kilometer nur mehr dahingeschleppt — gibt er endgültig auf. Er läßt sich von Michou mit dem Auto abholen, ich gehe allein — mit Ajiz natürlich — weiter. Nach Einbruch der Dunkelheit komme auch ich, müde, aber zufrieden, in Vauvert an. Heute waren es 35 Kilometer, gar nicht so übel für den ersten Tag!
Jean ist wieder guter Dinge, er hat gebadet und seine Füße verarztet. Ein köstliches Abendessen und ein ebenso köstlicher Wein (Cotes du Rhone) runden den Tag ab.
Freitag, 24. Feber Vauvert — St. Brès
Indiana Jones in Ambrussum
Ab heute sind Ajiz und ich alleine, daran werden wir uns gewöhnen müssen. Ziel der heutigen Etappe ist St. Brès, 30 Kilometer von Vauvert, etwa sieben Stunden Marsch, und das teilweise auf der alten „Via Domitiana“, der Hauptverbindung von Rom in die spanische Provinz. Man sieht die Straße nicht immer, aber dann kommen wieder plötzlich Stücke der Pflasterung und die von den Ochsenkarren ausgefahrenen Rillen zum Vorschein. Es ist unglaublich! Diese Straße ist über 2000 Jahre alt und wird immer noch von Menschen benutzt!
In Ambrussum, einer römischen Niederlassung auf der „Via Domitiana“, habe ich eine nette Begegnung mit Buben aus der Gegend, die einen Radausflug zur alten Römerbrücke gemacht haben. Sie sehen mich ankommen, zu Fuß, mit Rucksack, Hut und Stock — und einem Hund, der Satteltaschen trägt, umringen mich sofort und löchern mich mit Fragen: Wo komme ich her? Wo gehe ich hin? Warum bin ich zu Fuß unterwegs? Wo schlafe ich? Was esse ich? Alles in allem stellen sie sehr vernünftige Fragen, das Gespräch mit ihnen macht mir großen Spaß. Einer vergleicht mich mit dem berühmten „Indiana Jones“, und ich fühle mich sehr geschmeichelt. Als zum Schluß ein anderer sagt, wenn er einmal groß sei, würde er auch so eine Reise machen wie ich, platze ich fast vor Stolz! Anscheinend erfülle ich mit dieser Pilgerfahrt nicht nur meinen Traum!
Der Weg führt ein gutes Stück an der Autobahn entlang, die auch den Namen der alten Römerstraße trägt und deren Ziel ebenfalls Spanien ist. Doch was für ein Kontrast! Was die Autos mir an Geschwindigkeit voraushaben, wiege ich an Tiefe, Intensität und durch Begegnungen mehr als auf.
Die Nacht verbringe ich bei Marie-Christine und Jean, die ich ebenfalls aus meiner Studienzeit in
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